In den letzten Tagen wurde die EU-Politik hinsichtlich der Impfstoffversorgung gegen das Covid-19-Virus eingehender Kritik unterzogen. Alternativen wurden dabei kaum aufgezeigt. Auch wenn wir uns in einer Ausnahmesituation befinden, bleibt die entscheidende Frage vor allem, ob nicht eine überzeugende globale Strategie fehlt, in die die EU eingebunden werden sollte. Trotz Verständnis für nationale Perspektiven darf man nicht übersehen, wie viele Menschen weltweit eine Impfung brauchen und wie viele kaum eine Chance haben, 2021 noch eine zu bekommen. Wir werden auch in Europa Verzögerungen zur Kenntnis nehmen müssen, aber noch gehören wir zu den Privilegierten.

Pandemie – aber zersplitterte Antwort

Es ist grundsätzlich absurd, dass wir eine globale Verbreitung eines gefährlichen Virus, aber keine globale Antwort auf diese besondere Herausforderung für unsere Gesundheit finden. Das wäre die Kernaufgabe der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese hat aber eine zu schwache Unterstützung seitens der Regierungen und ist sehr stark auf private Finanziers wie Bill Gates angewiesen. Ein Blick auf die Website der WHO zeugt von der Schwäche dieser Organisation, trotz vieler engagierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der globalen Pandemie steht also keine starke globale Gesundheitsorganisation gegenüber.

Was die pharmazeutische Seite betrifft, so haben wir einige größere und mittlere Konzerne, die auf ein weltweites Netz an Labors, Zulieferern und Produktionsstätten zurückgreifen können. Hier gibt es globale Strukturen, was aber die Versorgung mit Medikamenten und Impfstoffen nicht unbedingt erleichtert, denn diesen meist transnationalen Unternehmen stehen einzelne Staaten gegenüber – mit unterschiedlicher Verhandlungsmacht, je nach Größe der Bevölkerung und der Wirtschaftskraft. Leider sehen wir, dass einige Konzerne daraus Profit schlagen.

EU: Mangel an Forschung und Produktion

Es war bereits ein Fortschritt, dass sich die EU, die im Grundsatz keine gesundheitlichen Kompetenzen hat – was zu Beginn der Pandemie besonders deutlich wurde –, zu einem gemeinsamen Auftreten gegenüber jenen Firmen entschloss, die an der Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Covid-Virus arbeiten. Man stelle sich vor, die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten würden um die Versorgung mit Impfstoffen raufen. Kleine Länder wie Österreich würden das Nachsehen haben. Bei der Beurteilung der EU-Strategie muss man zusätzlich bedenken, dass man schwer abschätzen konnte, welche Firmen wie schnell einen geeigneten Impfstoff entwickeln würden. Zu berücksichtigen war zudem, wie schwierig und kompliziert der Transport, die Lagerung und die Verimpfung sein würde. Die EU als solche hat keine "eigene" europäische Pharmafirma. Aber sie setzte stark auf den Impfstoff von Astra Zeneca. Weil er leichter zu handhaben ist und vor allem auch dezentral verimpft werden kann.

Bereits bei meinem Besuch beim Karolinska Institut in Stockholm vor vielen Jahren habe ich die Verlagerung des Schwerpunkts der Forschungskapazität von Stockholm nach Großbritannien bedauert – ohne dass mir klar war, was das einmal konkret bedeuten würde. 1999 fusionierte nämlich das schwedische Unternehmen Astra Ab mit dem britischen Unternehmen Zeneca. Das neue Unternehmen arbeitet zusammen mit Forschern der Universität Oxford an der Entwicklung des Covid-Impfstoffs. Von der britischen Zentrale wird nun der Vertrieb des Impfstoffs gelenkt, und es ist dabei nicht verwunderlich, dass Großbritannien eine bestimmte Bevorzugung genießt. Wenn auch größere Mengen dieses Impfstoffs in Ländern der EU erzeugt werden, so heißt das nicht, dass diese Mengen vor allem den europäischen Ländern zur Verfügung stehen. Der weitaus größte Teil des Impfstoffs von Astra Zeneca wird übrigens in Indien hergestellt, und davon ist die Hälfte für die indische Bevölkerung vorgesehen – zu Recht.

Auch wenn die Entwicklung des Pfizer-Impfstoffs vor allem in Deutschland bei Biontech erfolgte, war von Beginn an der US-Konzern die dominierende Firma in Bezug auf die Produktion und den Vertrieb. Sowohl Astra Zeneca als auch Biontech-Pfizer haben die Probleme bei der Zurverfügungstellung der Produktionskapazitäten unterschätzt oder wollten den nachfragenden Regierungen nicht die Wahrheit sagen. Man kann daher sagen, dass die Mitgliedsstaaten sowie die EU-Kommission bewusst in die Irre geführt wurden. Dazu kommt, dass nicht absehbar war, welche Anbieter wann ihre Produkte zur Genehmigung bei der EMA, der EU-Genehmigungsbehörde für Medikamente, einreichen würden. Derzeit stehen vor allem noch drei Pharmafirmen vor der Einreichung: das deutsche Unternehmen Curevac, welches Trump aufkaufen wollte, sowie die US-amerikanischen, aber global vernetzten Unternehmen Johnson & Johnson sowie Novavax.

Russland und China im Vormarsch

Neben den "westlichen" Impfstoffen gibt es aber noch den russischen Impfstoff Sputnik V sowie zwei chinesische Impfstoffe: Sinopharm und Sinovac. Hier wird die Schwäche der WHO beziehungsweise der Mangel an globaler, gemeinsamer und transparenter Beurteilung und Bewertung von Impfstoffen wieder deutlich. Es wäre durchaus möglich, die Impfstoffe nach ihrer Zusammensetzung sowie Wirksamkeit zu beurteilen und weniger nach der geografischen beziehungsweise nationalen Herkunft.

Problematisch ist aber auch, dass die Unterlagen der russischen und chinesischen Impfstoffe hinsichtlich Erprobung nicht ausreichend transparent sind. Allerdings gibt es neue Nachrichten, die darauf hinweisen, dass der Impfstoff Sputnik V den EU-Standards entspricht, und so könnte er auch die Versorgungslage in der EU verbessern. Das wäre auch politisch ein positives Signal. Kritik gibt es zudem, dass sowohl Russland als auch China Impfstoffe aus außenpolitischen beziehungsweise strategischen Interessen exportieren, obwohl im eigenen Land Bedarf besteht. So kam es dann beim neu aufgekommenen Bedarf in Russland, China aber auch der EU zu Lieferschwierigkeiten. Dennoch schätzen manche, dass die EU trotz derzeitiger Lieferprobleme vor China eine "Herdenimmunität" erreichen könnte. Demgegenüber steht wiederum die vergleichsweise geringere Anzahl an Neuinfektionen in China.

In dieser schwierigen Situation ist es zudem bedenklich, dass immer wieder unbegründetes Misstrauen gegenüber "anderen" Impfstoffen ausgedrückt wird. Die chinesische Propaganda hat sogar Fake-News über die westlichen Impfstoffe verbreitet, obwohl die EU derzeit Kapazitäten in China aufbaut, um diese dort zu produzieren. Es ist tragisch, dass versucht wird, mit der Gesundheit aller ideologisches und politisches Kapital zu schlagen. Wichtig wäre es hingegen, die Kooperation im Interesse der globalen Volksgesundheit zu stärken, wie es angeblich Merkel und Putin in einem Gespräch diskutiert hatten. Aber schon die ständige Verwendung des Begriffs "chinesisches Virus" durch Trump verfolgte einen primitiven politischen Zweck. Dass China vor allem am Anfang die Existenz eines neuen Virus geleugnet hat, war aber auch ein entscheidender Fehler. Man wird sehen, was diesbezüglich die derzeit in Wuhan befindliche Delegation der WHO an Beurteilungen vornimmt.

Zweifel und Kritik an den verschiedenen Impfstoffen helfen nicht, der Pandemie Herr zu werden.
Foto: AFP/CHRISTOF STACHE

Noch immer zu wenig Impfstoff

Entscheidend ist aber die Tatsache, dass sich die Impfstoffproduktion verzögert hat. Jetzt gibt es auch Pläne, bestehende Produktionsanlagen anderer Firmen zur Herstellung von "fremden" Impfstoffen heranzuziehen. So soll unter anderem die französische Firma Sanofi-GSK in Deutschland Impfstoff von Pfizer-Biontech herstellen. Ähnliches gilt für das Schweizer Unternehmen Novartis. Aber solche Umstellungen dauern und können nicht über Nacht erfolgen. Bei rechtzeitiger Information durch die säumigen Pharmakonzerne hätten schon früher andere Produktionsstätten herangezogen werden können. Ob man jetzt durch staatliche Gebote oder durch besondere Prämien eine rasche Ausweitung der Produktionskapazitäten erreichen kann, ist daher fraglich. Aber man sollte jedenfalls die Pharmafirmen dahingehend unter entsprechenden Druck setzen.

Es stimmt, dass einzelne kleine Länder sich ausreichend versorgen können, indem sie mehr zahlen beziehungsweise indem die Impfungen gleich als zusätzliche Testphase für die Impfstoffhersteller verwendet werden. So konnte Israel eine erfolgreiche Impfstrategie fahren. Allerdings setzte sie diese nicht in den besetzten palästinensischen Gebieten um, und aufgrund der strenggläubigen Bevölkerung, die Lockdowns ablehnt, hat Israel nach wie vor eine hohe Ansteckungs-Inzidenz. Es ist schon etwas unverständlich, warum gerade in den Medien ein Land mit weniger als neun Millionen Einwohnern der EU mit fast 450 Millionen Bürgern als Beispiel vorgehalten wird.

Wir sollten nicht vergessen, dass erstens, global gesehen, zu wenig Impfstoff vorhanden ist und zweitens vor allem die ärmeren Länder benachteiligt sind. Das gilt teilweise auch für europäische Länder wie die Ukraine oder Moldau, aber auch für Länder am Westbalkan. Dazu kommt, dass sich vor allem Länder, die mit Russland in Konflikt stehen, schwertun, eine Antwort auf russische Angebote zu finden. Einige Staaten am Balkan, wie beispielsweise Serbien, nützen die Lieferschwierigkeiten "westlicher" Impfstoffe aus, um ihre Beziehungen mit China zu verbessern. China wiederum nützt dies für seine eigenen propagandistischen Zwecke aus.

Um ärmere Länder zu unterstützen, wurde die Covax-Initiative gegründet, die unter anderem von der EU gefördert wird. Die EU hat ja viel mehr Impfstoffe angekauft, als notwendig wäre, um eben auch andere Länder in Europa – und darüber hinaus – zu unterstützen. Aber durch die verzögerte Lieferung kommen mittlerweile auch EU-Staaten zunehmend in Schwierigkeiten. Das gilt umso mehr für die ärmsten Länder, soweit sie nicht von internationalen Unterstützungen im Rahmen von Covax profitieren. So meinen sogar manche, dass die Länder mit mittleren Volkseinkommen besonders betroffen sind. Sie können einerseits nicht von einer sozialen Zuteilung von Covax profitieren und haben anderseits nicht genügend Finanzkraft, um sich auf dem privaten Markt Impfstoffe zu besorgen. Dazu kommt auch, dass der Kauf von Impfstoffen ihre ohnedies hohe Verschuldung erhöhen wird.

Stärkung der globalen Gesundheitsversorgung

Was wir brauchen, sind verstärkte gemeinsame Bemühungen für die Gesundheit aller Menschen. Ein Teil davon ist auch die Prävention und die Bekämpfung von Bedingungen und Verhältnissen, die gesundheitsschädigende Folgen für Menschen nach sich ziehen.

Dennoch werden noch immer viele "medizinische Eingriffe" nötig bleiben, wie eben die Verteilung und Verbreitung von wichtigen Impfstoffen. Es ist schon verwunderlich, dass hierbei vor allem private Organisationen und Personen, wie Melinda und Bill Gates, aktiv sind. Prinzipiell ist nichts gegen Unterstützung durch Milliardäre einzuwenden, aber dass darauf eine globale Impfstrategie beruht, mutet absurd an. Überdies führt dies zu Verschwörungstheorien und Verdächtigungen, die diesen Privaten unterstellen, nur aus eigenem Profitinteresse zu handeln. Es ist gut, dass Präsident Biden die USA wieder in die WHO zurückgeführt hat, aber wir brauchen eine starke, global wirksame und vor allem von Regierungen unterstützte WHO. Die Gesundheit zu wahren und Krankheiten, vor allem Epidemien und Pandemien, zu bekämpfen, ist eine öffentliche Aufgabe: national, regional und global.

Impfnationalismen und das nationale Raufen um Impfstoffe in einer globalisierten und vernetzten Welt sind nicht zielführend. Wir brauchen eine langfristige internationale Vereinbarung, wie wir Pandemien gemeinsam effektiv bekämpfen können. Dazu gehört die Entwicklung von Impfstoffen, aber auch die Produktion und Verteilung nach nachvollziehbaren Kriterien. Zusätzlich ist es auch sinnvoll, dass in den unterschiedlichen Kontinenten entsprechende Kapazitäten geschaffen werden. Für das Europa der EU geht es dabei vor allem um Forschungskapazitäten. Wer sie in ausreichendem Maße hat, kann dann auch die Produktion und Verteilung entscheidend beeinflussen. Und Europa hat jedenfalls zu wenig davon.

Zusätzlich muss man einen Weg finden, wie die Anreize für Pharmaunternehmen zur Forschung mit der Garantie einer raschen weltweiten Produktion verbunden werden können. Wenn es um Leben oder Tod geht, dann dürfen begrenzte Produktionskapazitäten nicht die Verfügbarkeit von notwendigen Impfstoffen infrage stellen. Wenn Pharmaunternehmen auf ihren Patentrechten beharren wollen, dann müssen sie auch in der Lage sein, rechtzeitig für eine ausreichende Produktionskapazität zu sorgen und eine rasche Verteilung der Impfstoffe zu gewährleisten.

All dies muss die internationale Staatengemeinschaft bedenken, wenn sie die Lehren aus der jetzigen Pandemie ziehen will. Obwohl Covid-19 nicht die erste gesundheitliche Herausforderung in der Geschichte ist, haben wir in der Vergangenheit zu wenig aus vorangegangenen Pandemien gelernt. Es scheint, dass diese, vor allem in den letzten Jahrzehnten, reiche Staaten zu wenig getroffen haben, um rasche und effiziente Strategien vorzubereiten und Lösungen zu entwickeln.

Ich befürchte leider, dass die Trägheit der Politik sowie der erstarkte Nationalismus auch diesmal verhindern werden, dass notwendige Schritte rasch gesetzt werden. (Hannes Swoboda, 9.2.2021)