Das unter Türkis-Blau beschlossene Pädagogikpaket schraubt an der Notenskala der Mittelschulen – und sorgt so für Kritik.
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In diesem Februar dürften mehr Mittelschüler als bisher einen Einser in der Schulnachricht stehen haben. In Wien und Niederösterreich laufen die Semesterferien bereits, am Montag starten die anderen Bundesländer in eine Woche Freizeit, bevor der Präsenzunterricht unter besonderen Corona-Auflagen wieder anläuft. In den Mittelschulen war es das erste Semester mit einem neuen Beurteilungssystem und der Wiederermöglichung von dauerhaft geführten Leistungsgruppen. Einige Pädagoginnen kritisieren im Gespräch mit dem STANDARD das neue System, das dem "Bauchgefühl" der Lehrerinnen und Lehrer mehr Gewicht gebe, generell bedeute die Reform einen massiven Rückschritt.

Mit dem "Pädagogikpaket", das noch unter Türkis-Blau beschlossen worden ist, sind die "Neuen Mittelschulen" zu Mittelschulen geworden. An allen Schulen umgesetzt wird das Gesetz seit September letzten Jahres. Damit wurde die Notenskala – wieder einmal – geändert. Gab es seit 2012 sieben verschiedene Noten, gibt es nun zwei überlappende fünfteilige Notenskalen. Die Lehrer in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch müssen ihre Schüler in der sechsten Schulstufe spätestens nach zwei Wochen entweder der Gruppe "Standard" oder "Standard AHS" zuteilen. In der jeweiligen Gruppe können sie die Noten "Sehr Gut" bis "Nicht Genügend" vergeben, wobei zum Beispiel ein Zweier im "Standard" einem Vierer im "Standard AHS" entspricht.

Ein Einser wird möglich

Ziel der Reform war, die Notengebung transparenter zu machen. Ein weiteres Argument der Befürworter: Schülern mit geringeren Leistungen werden so gute Noten im Zeugnis ermöglicht – beim Notensystem der "Neuen Mittelschulen" gab es für sie höchstens einen Dreier. Gelungen ist das aber nicht, findet Barbara Falkinger, Direktorin der Mittelschule Obere Augartenstraße in Wien und Mitglied des Vereins Schaumonito, der sich zur Aufgabe gemacht hat, Schulautonomieprozesse voranzutreiben. "Es soll ja nicht um die Noten gehen, sondern um die Inhalte, die das Kind lernt."

Zwar ist es für die Schüler – je nach Leistung – jederzeit möglich, zwischen den Gruppen zu wechseln. Falkinger kritisiert die Selektion dennoch: "Es ist eine Stigmatisierung. Statt neue didaktische und methodische Überlegungen anzustellen, verwenden wir Energie darauf, auf- oder abzustufen. Die Hoffnung auf eine kindgerechte Schule habe ich mit dieser Reform aufgegeben." In Österreich hänge der Bildungserfolg ohnehin stark von den Eltern ab, dies werde jetzt weiter verstärkt. Falkinger befürchtet, dass vor allem bildungsaffine Eltern auf die Aufstiegsberechtigungen ihrer Kinder drängen und Pädagogen unter Druck setzen werden.

Viel Subjektivität

Zudem wohne dem neuen System sehr viel Subjektivität inne, sagt Falkinger. Die Lehrperson entscheidet, wer welchem Leistungsniveau zugeordnet wird. In einer Unterlage das Bildungsministeriums heißt es dazu etwa: "Ausschlaggebend für die Zuordnung ist nicht das Jahreszeugnis der 5. Schulstufe, sondern die Einschätzung der unterrichtenden Lehrpersonen, ob eine Schülerin beziehungsweise ein Schüler die Anforderungen des Leistungsniveaus 'Standard AHS' erfüllen kann oder nicht."

Besonders dieser Satz irritiert Veronika Weiskopf-Prantner. Die Lehrerin fragt sich, warum "Bauchgefühl" einer Lehrperson mit ihren ganz persönlichen Erfahrungen über ein offizielles, amtliches Leistungsgutachten gestellt wird. Weiskopf-Prantner unterrichtet an der Mittelschule Clemens Holzmeister in Landeck, Tirol, und hat sich mit ihrer Kritik am Pädagogikpaket ans Bildungsministerium gewandt. Bedenklich findet sie vor allem, dass die gesetzliche Grundlage für die Zuordnung der Schüler zu den Leistungsniveaus Standard und Standard AHS fehlt, da nirgendwo klar definiert sei, was mit diesen beiden Leistungsniveaus konkret gemeint sei.

Auf die Kritik angesprochen, verweist Bildungsminister Heinz Faßmann in einer Stellungnahme gegenüber dem STANDARD auf das Pilotkompetenzraster, das die Lehrerinnen und Lehrer unterstützen soll. Die Pädagogischen Hochschulen würden dazu auch Fortbildungen anbieten. Man arbeite derzeit auch intensiv an neuen, kompetenzorientierten Lehrplänen für die Mittelschule sowie die AHS-Unterstufe. Die Rückmeldungen zur Mittelschulreform an das Ministerium seien zudem grundsätzlich positiv. Noch im Frühjahr plant das Ministerium ausführliche Gespräche mit den Leitungen des Pädagogischen Dienstes, um "allfällige Herausforderungen im ersten Jahr der Umsetzung zu beleuchten und allenfalls erforderliche Maßnahmen zu identifizieren".

Reformen verunsichern

Die Eltern von Mittelschülern sind unterdessen vor allem verunsichert. Mariella Knapp begleitet die Reformen schon seit der Einführung der Neuen Mittelschulen im Jahr 2008. Im Rahmen der Forschungsgruppe "Noesis" (Niederösterreichische Schule in der Schulentwicklung) der Universität Wien befragt sie die Betroffenen regelmäßig. "Verunsicherung und Missmut sind aufgrund der ständigen Änderungen groß", sagt Knapp. Schon mit der Reform der Notenskala 2012 habe man Eltern, Lehrer und Schüler verunsichert. Nun hätten sie sich langsam daran gewöhnt – und müssten sich jetzt wieder umstellen.

Generell sieht die Bildungsforscherin in der Reform einen Rückschritt. Die Auflösung der Leistungsgruppen sei der Knackpunkt der Neuen Mittelschule gewesen. Es habe Jahre gedauert, bis sich die Pädagogen davon lösen konnten. "Dabei zeigt die Forschung, dass flexible Gruppen, beispielsweise nach Interessen und nicht nur nach Leistung, viel sinnvoller wären", sagt Knapp.

Die Wissenschafterin empfiehlt, den Schulen statt ständig neue Reformen mehr Autonomie zu geben. "Als die Neue Mittelschule 2008 freiwillig umgesetzt werden konnte, gab es eine Aufbruchsstimmung. Die Schulen haben diskutiert und auch mit den Eltern und Schülern gemeinsam entschieden, wo sie hinwollen. Mit dem Überstülpen von neuen Gesetzen hat man diesen Spirit kaputtgemacht." (Lisa Kogelnik, 5.2.2021)