Inhalte des ballesterer #158 (März 2021) – Seit 5. Februar im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk

SCHWERPUNKT: BELA GUTTMANN

WELTREISENDER IN SACHEN FUSSBALL
Bela Guttmann trainierte in zwölf Ländern, gewann 13 Titel und setzte auf Tore

TAKTIK TOTAL
Totalfutebol bei Benfica

UNGLÜCKLICHES BENFICA
Der Guttmann-Fluch hält an

DER PROFI
Eine Spielerkarriere zwischen Budapest, Wien und New York

Außerdem im neuen ballesterer:

SPIELERVERSTEHER & SELBSTDARSTELLER
Ein Nachruf auf Otto Baric

GETEILTES BEITAR JERUSALEM
Der israelische Klub und sein arabischer Investor

FRISCH AUFGEWÄRMT
Anzeige in der Causa Rapid-Kessel

SPECIAL ODER SPURSY?
Jose Mourinho bei Tottenham

NACHZÜGLER
Die Ambitionen der Racing City Group

GEZEICHNET FÜRS LEBEN
Die Tattoos von Michael Blauensteiner

GUT DING UND WEILE IN DORNBACH
Der Umbau des Wiener-Sport-Club-Platzes

GROUND PRIX
Die 100 schönsten britischen Stadien

COMEBACK IN MITTLEREN JAHREN
Das Münchner Olympiastadion

REFORM IM GEGENWIND
Die Regionalligen im Westen

Geborgte Spannung
Ein Anstoß zum Fußball in Coronazeiten

SPIEL DES LEBENS
Matchberichte aus Brasilien, den Niederlanden und Polen

Cover: ballesterer

Denkt Claussen an die sportlichen Leistungen von Guttmann, gerät er ins Schwärmen.

Foto: privat

Detlev Claussen kennt Bela Guttmann wie kein Zweiter im deutschsprachigen Raum. Wie der Untertitel seiner Biografie, "Weltgeschichte des Fußballs in einer Person", vermuten lässt, geht es darin um weit mehr als nur das sportliche Wirken des erfolgreichen Spielers und noch erfolgreicheren Trainers. Auch das ballesterer-Interview dreht sich schnell um große Fragen wie den fortschrittlichen Professionalismus, Antisemitismus in Österreich und das Arbeiten in Diktaturen. Doch die sportlichen Leistungen Guttmanns haben Claussen ebenfalls tief beeindruckt. Immer wieder kommt er ins Schwärmen. "Es ist ja einmalig, mit so einer Mannschaft wie Benfica zweimal hintereinander den Europapokal der Landesmeister zu gewinnen", sagt er. "Ich würde behaupten, dass es damals viel schwieriger war, dieses Turnier zu gewinnen."

ballesterer: Bela Guttmann ist einer der wichtigsten Trainer der Geschichte. Dennoch ist er heute nur noch wenigen ein Begriff. Warum?

Detlev Claussen: Seine vielen Vereins- und Länderwechsel haben wahrscheinlich dazu geführt, dass er nicht mit einer nationalen Fußballgeschichte verbunden ist. Er verkörpert die globale Fußballgeschichte – als einer der Ersten.

ballesterer: Er hat das Trainerwesen revolutioniert und wollte dafür gut bezahlt werden. Heute ist der Fußball ohne Kommerzialisierung nicht mehr vorstellbar. Hätte Guttmann das so gewollt?

Claussen: Man muss ihn in seiner Zeit interpretieren. Und da hat der Fußball einen gesellschaftlichen Fortschritt bedeutet und der Professionalismus ebenfalls. Guttmann hat sich mit seiner Vorstellung von Professionalismus – also dass Leistung angemessen bezahlt werden muss – in einer fortschrittlichen Position befunden. In den 1920er Jahren haben die Fußballer in den Profiligen nicht verdient wie heute. Die überwältigende Mehrheit hat sich am Rande des Existenzminimums bewegt.

ballesterer: Die sogenannten Bettelprofis.

Claussen: Ja, genau. Wien ist ja ein Beispiel für die frühe Professionalisierung. Dort hat man in den 1920er Jahren nicht 300 Profis durch Zuschauer und Marketing ernähren können. Der Exodus der Wiener Fußballer nach New York in der Mitte der 1920er Jahre ist ja auch nur dadurch zu erklären. In den USA hat es ganz andere ökonomische Möglichkeiten gegeben. Guttmann hat damals aber auch die Schattenseiten gesehen: Die Fußballer waren völlig überspielt, sie haben Tag und Nacht antreten müssen. Die Weiten des amerikanischen Kontinents waren etwas anderes als Wien. Diese langen Reisen, das unstete Leben und so weiter.

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Claussen über Guttmann (Bild): "Ein Teil seines Erfolgs beruht sicher darauf, dass er Effektivität in eine Fußballwelt eingeführt hat, die noch gar nicht auf Effektivität gepolt war."
Foto: AP / Leonard Brown

ballesterer: Guttmann hat von seinen Spielern allerdings auch volle Hingabe an den Fußball gefordert.

Claussen: Er hat versucht, mit den damaligen Mitteln das Optimum zu erreichen. Ein Teil seines Erfolgs beruht sicher darauf, dass er Effektivität in eine Fußballwelt eingeführt hat, die noch gar nicht auf Effektivität gepolt war. In England zwar schon, aber im sogenannten Süden, und da rechne ich Wien dazu, ist das schöne Spiel im Vordergrund gestanden. In Brasilien war es genau das Gleiche.

ballesterer: Das hat Guttmann dort dann in den 1950er Jahren zu ändern versucht.

Claussen: Er ist angekommen und hat mit seinem Schusstraining angefangen: "Wer dreimal den Ball im Strafraum annimmt und nicht aufs Tor schießt, den nehme ich raus." Am Strafraum herumzaubern und auf den genialen Einfall warten, war nicht seine Sache. Für ihn waren viele Tore das Spektakel. Das hat er gewollt, 0:0 hat er gehasst.

ballesterer: Hat Guttmann einen bleibenden Einfluss auf das Trainerwesen in Portugal und Brasilien gehabt?

Claussen: Ich glaube, die wichtigere Entwicklung hängt mit der Fußballmigration zusammen. In Portugal und Brasilien, aber auch in Italien, hat es schon in den 1920er Jahren ungarische Trainer gegeben. Sie haben die schottischen Trainer der 1910er und frühen 1920er Jahre abgelöst. Guttmann hat deswegen an bestimmte Elemente anknüpfen können. Die Spieler waren auch nicht völlig unvorbereitet auf das, was mit ihm gekommen ist. Er hat es systematisiert und mit seinem Stil verbunden: Er hat dem Weltfußball ein offensives 4-2-4 hinterlassen. Dazu brauchst du Spieler, die nicht überall zu haben waren.

ballesterer: Wie war das in Ungarn? Er gilt ja als Mitbegründer der Goldenen Elf und soll auch Teamchef Gustav Sebes beeinflusst haben.

Claussen: Ich weiß gar nicht, wer da wen beeinflusst hat. Da hat sich eine ganze Trainergeneration getroffen und ihre Ideen ausgetauscht. Guttmann hat wahrscheinlich ein geistiges Miteigentum an diesem Team, aber Sebes darf man auch nicht unterschätzen. w Er war eine hochinteressante Figur, der diese komplizierte Mannschaft zusammengehalten hat.

ballesterer: In Österreich hat sich sein Einfluss auf den Fußball aber in Grenzen gehalten.

Claussen: Wien war ja für ihn eher eine Drehscheibe. Das lag an der Internationalität der Stadt, in der immer Menschen aus verschiedenen Fußballkulturen zusammengekommen sind. Ich glaube, er hätte gerne mehr Einfluss auf den österreichischen Fußball gehabt, besonders nach der Benfica-Zeit, aber irgendwie haben sich seine Ideen nicht realisieren lassen.

ballesterer: Er war 1964 der erste jüdische Teamchef nach dem Zweiten Weltkrieg. In Österreich ist der Nationalsozialismus damals kaum aufgearbeitet worden. Wie hat Guttmann das aufgenommen?

Claussen: Guttmann ist sich des Antisemitismus sehr bewusst gewesen. Er war ein Mensch mit einem politischen Erfahrungshintergrund, den man nicht verleugnen kann. Er hat die Naziherrschaft in Ungarn überlebt. Er war im Arbeitslager, hat sich verstecken müssen. Engste Angehörige sind in Auschwitz ermordet worden.

ballesterer: Er hat in Portugal große Erfolge gehabt, während dort mit Antonio Salazar ein rechter Diktator an der Macht war. War das für ihn kein Problem?

Claussen: Der Antisemitismus war dort im Alltagsleben wahrscheinlich weniger präsent als in Österreich und Italien. Ich glaube, Portugal hat ihm gutgetan, weil er die Möglichkeit gehabt hat, als Immigrant akzeptiert zu werden. Das war für ihn eine Chance. Er ist bei Benfica zu einem Außenseiterverein gekommen, der ein großes Potenzial gehabt hat. Die richtig etablierten Klubs waren die Spanier mit Barcelona und Real und die großen italienischen Vereine. Und in Italien war er davor schon, dort ist er aber mit einer Art von Fußballkorruption in Berührung geraten, die ihresgleichen sucht. Das ist ja auch Ironie des Schicksals.

ballesterer: Wie meinen Sie das?

Claussen: Er ist der Fußballkorruption im kommunistischen Ungarn entflohen. Der Fußball und seine Vereine haben der Politik gehört, das wollte er überhaupt nicht. Also hat er sich gedacht: "Jetzt gehe ich in ein Land, in dem der professionelle Fußball schon weit vorangeschritten ist: nach Italien." Dann ist er in das Land mit Fußballkorruption ohne Beispiel gekommen und ständig Intrigen zum Opfer gefallen. Bei Milan haben sie ihn auf den letzten Metern hinausgeworfen, ehe der Verein Meister geworden ist.

ballesterer: Wie hat er sich in Portugal zurechtgefunden?

Claussen: Vier, fünf seiner besten Spieler sind aus den Kolonien gekommen. Da hat sicher Guttmanns Erfahrung eine Rolle gespielt: "Ich nehme die besten Spieler, auch wenn die Leute in den Vorständen die Nase darüber rümpfen: ‚Was sollen wir denn mit so vielen Schwarzen?‘" Daran sieht man auch die Veränderung im portugiesischen Fußball nach Guttmann, vorher hat es überhaupt keine schwarzen Teamspieler gegeben.

ballesterer: Er hat sein Ding durchgezogen?

Claussen: Ja, das hat dann geheißen: "Ich hole Talent, ich hole Außenseiter und Leute, die hungrig sind." Und da war ganz klar, dass viele aus Angola und Mosambik gekommen sind, weil das für sie die einzige Chance war. Die Klubs haben Farmteams in den Kolonien gehabt, und dadurch hatten sie Zugriff auf diese Spieler. Eusebio ist dann der berühmteste von ihnen geworden.

ballesterer: Guttmann hat so seine Schwierigkeiten mit Starspielern gehabt. Hätte er ein Team wie Real Madrid mit Ferenc Puskas und Alfredo Di Stefano überhaupt trainieren können?

Claussen: Nein, er hat ja diese knallharte Unterordnung gefordert. Dadurch hat er auch keine Superstars dulden können. Er hat sie dann gerne auf die Bank gesetzt, um zu zeigen, dass sie sich mit ihm arrangieren müssen, wenn sie spielen wollen. Der letzte Trainer von diesem Typ war Alex Ferguson. Der wäre heute auch nicht mehr möglich.

ballesterer: Bei Guttmann kommt immer wieder die Frage nach der Entlohnung auf. Er hat einmal gesagt, dass er während des Ersten Weltkriegs so sehr gehungert habe, dass er das nie wieder erleben wolle.

Claussen: Es hat da mehrere prägende Erfahrungen gegeben, auch bei den Olympischen Spielen in Paris 1924. Da sind die Spieler von den Funktionären schlecht behandelt worden. Die sind jeden Tag ausgegangen, während die Spieler kein Geld und nichts zu essen bekommen haben. Guttmann hat das als Demütigung empfunden. Für ihn war das Entscheidende, dass er für seine Leistung auch bezahlt wird. Das war auch immer ein Anerkennungsproblem.

ballesterer: Guttmann hat auch an der eigenen Mythenbildung gearbeitet. Er hat ein Rätsel um sein Geburtsdatum gemacht. Er hat Benfica verflucht, dass sie nach seinem Abgang keinen Europacup mehr gewinnen würden.

Claussen: Er war ein emotionaler Mensch und hat sich immer sehr beherrschen müssen. Schon als Spieler, es gibt ja auch die Zeugnisse, dass er an mancher Schlägerei auf einem Wiener Fußballplatz beteiligt war. Ich kann mir gut vorstellen, dass er einen unglaublichen Zorn auf die Benfica-Führung gehabt hat. Und wahrscheinlich auch eine gewisse Eitelkeit. Möglicherweise wollte er jünger erscheinen, damit es bei einer Verpflichtung nicht heißt: "Ach, der ist schon so alt."

ballesterer: Lange war auch ein großes Rätsel, wie Guttmann den Holocaust überlebt hat. Ein Biograf hat geschrieben, er habe sich auf dem Dachboden seines Schwagers versteckt.

Claussen: Ja, sein Neffe Pal Moldovan hat mir das bestätigt. Der Vater hat einen Friseurladen gehabt, dort hat er sich versteckt. Daran gibt es keinen Zweifel mehr.

ballesterer: Warum hat Guttmann jahrelang so ein Geheimnis darum gemacht?

Claussen: Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, er wollte Herr darüber sein, wie er in der Öffentlichkeit erscheint. Ein Opfer wollte er auf keinen Fall sein.

ballesterer: Liegt das auch an der fehlenden Aufarbeitung des Holocaust?

Claussen: Ja, sicher. Ganz wenige Opfer haben damals erklärt: "Ich habe das und jenes erlebt." Guttmann hat Dinge gesagt wie: "Ich weiß, dass es schwer ist, Jude zu sein." Er hat das aber sehr allgemein gehalten, er wollte nicht darauf reduziert werden. Er wollte aus seiner Biografie keine speziell jüdische Geschichte machen.

ballesterer: War er sehr gläubig?

Claussen: Überhaupt nicht. Das gehört auch zu dieser Sozialisation, er war säkularisiert. Bei der Hakoah hat er die Möglichkeit gehabt, in einem jüdischen Klub zu spielen, aber der Glaube war nicht das Bestimmende.

ballesterer: Egal, wo er war, hat er sich aber mit der jüdischen Sportcommunity umgeben.

Claussen: Ja, aber das war mehr die Fußballcommunity. In der Hakoah-Erfahrung steckt ja ganz viel drin: Amerika, die goldenen 1920er Jahre, die Weltwirtschaftskrise und dann die Nazizeit. In dieser Community hat man nicht erklären müssen, wie man den Nationalsozialismus überstanden hat. Jeder hat seine eigene Geschichte gehabt und jeder dadurch auch eine gemeinsame Geschichte. Das waren Erlebnisse, die an die Grenzen der eigenen Erfahrungsmöglichkeit gegangen sind. Die hat man nur anschneiden müssen und hat gewusst: "Der andere versteht mich." (Interview: Clemens Gröbner, Mitarbeit: Markus Horn, 5.2.2021)