Theatergeschichte revisited: Die Volksgartenszene in "Heldenplatz" mit Onkel Robert (August Zirner) und den Nichten Anna (Genia Maria Karasek, li.) und Olga (Julienne Pfeil) am Landestheater Salzburg.

Foto: Anna-Maria Löffelberger

Alexandra Liedtke, geb. 1979, ist Theater- und Opernregisseurin, bisher u. a. an Burgtheater, Josefstadt, Staatsoper.

Anna-Maria Löffelberger

August Zirner, geb. 1956, ist US-amerikanisch-österreichischer Theater- und Filmschauspieler mit Wiener Wurzeln.

APA/Hochmuth

Die Uraufführung von Thomas Bernhards Heldenplatz war 1988 noch ein Skandal mit Misthaufen auf der Ringstraße. An einem historischen Kippmoment – Kurt Waldheim, ehemals SA- und NSDStB-Mitglied, wurde zum Bundespräsidenten gewählt – ging es um die Deutungshoheit über österreichische Zeitgeschichte. Zum 90. Geburtstag von Thomas Bernhard feiert nun am Landestheater Salzburg eine Neuinszenierung Premiere. Passend, aber eigentlich ungeplant. Denn die Produktion wird seit dem Pandemieausbruch im Kalender geschoben und erreicht nun über eine Aufzeichnung als Stream ihr Publikum. Alexandra Liedtke inszeniert, August Zirner spielt die zentrale Rolle des Professor Schuster, dessen Familie am Geisteszustand ihres Landes zugrunde geht.

STANDARD: Thomas Bernhard hat in Salzburg gelebt. Sie, Herr Zirner, lesen im Landestheater-Stream aus seinem autobiografischen Buch "Der Keller" und merken an, dass den Dichter das erzwungene Innehalten durch die Seuche sicher interessiert hätte. Warum?

Zirner: Ich sehe eine Parallele zwischen dem Nachkriegskind Thomas Bernhard und der gegenwärtigen Weltkatastrophe. Und ich hoffe, es entsteht etwas aus dieser Zäsur. Ich oute mich hier als krankhafter Optimist. Meine Krankheit ist die gewisse Hoffnung, dass aus jedem unguten Zustand etwas Positives entstehen kann. Ich frage mich also, ob es uns gelingt, den Turbokapitalismus zu überwinden.

Liedtke: Uns begleitet Heldenplatz seit einem Jahr, und in dieser Zeit ist eine Traurigkeit hinzugekommen, die auch im Text angelegt ist. Denn in der Beschimpfungstirade drückt sich ja auch ein Verlorensein aus. Heldenplatz ist absolut ein Stück der Zeit, es kommt mir immer aktueller vor. So ist es doch: Die Welt kommt einem abhanden. Wir hatten übrigens schon vor Ausbruch von Covid ein Bühnenbild konzipiert, aus dem man nicht entrinnen kann. Nach 32 Jahren kommt das Stück in einem komplett anderen Weltzusammenhang auf die Bühne und hat seine volle Gültigkeit!

STANDARD: Die Rezeptionsgeschichte ist durch die Skandale der Uraufführung und durch Claus Peymanns imprägnierende Inszenierung sehr aufgeladen. Wie gehen Sie damit um?

Liedtke: Ich habe die Uraufführung nicht gesehen. Ich denke, das Stück ist vor allem ein Kunstwerk, Bernhard hat ein Thema künstlerisch verarbeitet. Er hat darin nicht nur Österreich beschimpft, sondern er hat eine Familienstruktur entworfen, eine fast pathogene Familie. Das ist ein Kunstgriff. Ich muss nicht an einen Skandal anknüpfen.

Zirner: Zynisch könnte man sagen, das große Geschenk, das Bernhard Waldheim gemacht hat, ist, dass er durch sein Stück Österreich zu einer Weltbedeutung verholfen hat, die das Land gar nicht hat.

STANDARD: Im Ensemble ist auch Elisabeth Rath, die in der Urinszenierung am Burgtheater über 80 Mal die Rolle der Schwester Olga gespielt hat. Hat sie Ihnen Anekdoten erzählt?

Zirner: Nicht wirklich, aber es ist bemerkenswert, dass sich 1988 so viele Menschen in Unkenntnis des Stücks erregt haben. Eine Aufführung ist immer so gut, wie sie in ihrer Zeit ist. Eine Zeit prägt einen Spiel- und Inszenierungsstil. Ich habe sicher eine andere Sprachbehandlung als vor 30 Jahren üblich.

STANDARD: Spielen Sie vor einer Kamera anders als vor Theaterpublikum?

Zirner: Ich versuche in erster Linie, nicht daran zu denken. Aber natürlich spielt man vor der Kamera anders. Ein Theatertext hat auch eine andere Sendequalität als ein Drehbuchtext. Keine Aufzeichnung der Welt wird je die Erfahrung einer Aufführung ersetzen können. Der große Giorgio Strehler hat vor Jahrzehnten am Festspielhaus hier in Salzburg gesagt: "Ich brauche keine Kamera, weil ich ohnehin den Schauspieler in den Fokus stelle!" Auch TV-Aufzeichnungen von großen Inszenierungen, von Fritz Kortner oder Peter Stein, haben für mich nur dokumentarischen Charakter.

STANDARD: Wie übersetzt man die Bühne in ein Bildschirmformat?

Liedtke: Wir haben ein Team, das die Inszenierung mit drei Kameras aufzeichnet. Ich habe als Regisseurin den Fokus nicht auf die filmische Übermittlung gelegt. Aber es wird vermutlich mehr Close-ups geben. Das Ziel war ganz klar, Theater als Kunstform zu erhalten.

STANDARD: Aber wie spielt man ohne Publikum?

Zirner: Ich stelle mir vor, da sitzen 400 Leute, denke mir aber – gemäß einem Zitat von Artur Rubinstein –, dass es ja auch genügt, nur für die eine Person im Publikum zu spielen, die versteht, was man tut. Ich nehme mit einem Zuschauer oder Zuhörer Kontakt auf und lasse die anderen 399, die vor der Mattscheibe sitzen, daran teilhaben. Das Entscheidende ist aber Bernhards Sprache. Sie ist Dichtkunst. Die Worte, die gesprochen werden, sind eben keine Filmtexte.

STANDARD: Käme das Monologhafte seiner Literatur der filmischen Form nicht entgegen? Allein wenn man an die Rede von Frau Zittel in der langen ersten Szene denkt?

Liedtke: In dem Moment, wo der Zuhörende fehlt, funktioniert auch der Monolog nicht. Bernhard hat ja jeder Figur mindestens einen Zuhörer dazugeschrieben – und dieser ist wie eine Verlagerung des zuhörenden Publikums auf die Bühne. Es sind also keine reinen Monologe.

Zirner: Es gibt die Suada bei Bernhard, das stimmt. Aber warum spricht jemand einen Monolog? Damit er gehört wird! Der Kybernetiker Heinz von Foerster hat dazu einen für mich prägenden, berufsstiftenden Satz gesagt: Nicht der Sprecher, sondern der Hörer bestimmt die Bedeutung einer Aussage. Jeder Monolog sucht einen Adressaten, nur wenn es einen Adressaten gibt, werden die Worte bedeutsam.

Liedtke: Heldenplatz ist in Wahrheit natürlich eine Liebeserklärung an Österreich, eine tragische. Thomas Bernhard scheint sich in einer unablässigen Suche und Auseinandersetzung mit der Heimat und der Kindheit befunden zu haben. Das hat vermutlich am meisten ihn selbst geschmerzt.

Zirner: Jetzt eine Volte zum Schluss. Ich gehöre zu der altmodischen Sorte Mensch – obwohl ich mich gar nicht für so altmodisch halte –, die Texte von Autoren nicht verändert. Wenn ein Schauspieler meint, er müsse den Text sprechbarer machen, als er ist, dann ist das blöd, und ich kann nur sagen, er soll lieber selber ein Stück schreiben.

(INTERVIEW: Margarete Affenzeller, 5.2.2021)