Gegen unzählige Bauunternehmen wird in Österreich wegen unzulässiger Absprachen bei öffentlichen Aufträgen ermittelt.

Foto: APA / Herbert Pfarrhofer

Der strafrechtliche Grundsatz "Ne bis in idem", der sowohl die doppelte Verfolgung als auch die doppelte Bestrafung wegen derselben Straftat verbietet, mag vielen aus Filmen zu US-amerikanischen Strafprozessen bekannt sein: Auch wenn der Angeklagte nach dem rechtskräftigen Freispruch durch die Jury offen zugibt, die Tat begangen zu haben, ist es der Staatsanwaltschaft verwehrt, einen noch so schweren Vorwurf weiter zu verfolgen.

Auch auf europäischer Ebene steht in den letzten Jahren das Verbot der mehrfachen Doppelverfolgung und -bestrafung, das in Art 4 des 7. Zusatzprotokolls zur Menschensrechtskonvention (EMRK) garantiert ist und somit in Österreich im Verfassungsrang steht sowie in Art 50 der EU-Grundrechtecharta verankert ist, wiederholt im Zentrum bedeutsamer Gerichtsentscheidungen. Insbesondere das Verhältnis zwischen von den Strafgerichten zu ahndenden Straftatbeständen einerseits und verwaltungsrechtlichen Sanktionen andererseits, durch die jeweils dasselbe Verhalten geahndet wird, beschäftigt immer wieder auch die österreichischen und europäischen Höchstgerichte – etwa zum Verkehrsstrafrecht oder Disziplinarrecht von Beamten, Ärzten oder Rechtsanwälten.

Was EGMR und EuGH dazu sagen

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 15.11.2016 in der Sache "A. u. B. gg Norwegen" zu Steuerzuschlägen, die neben einer Kriminalstrafe verhängt werden, stellt die Kumulierung derartiger Verwaltungsstrafen mit einer strafrechtlichen Sanktion keinen Verstoß gegen den "Ne bis in idem"-Grundsatz dar, wenn die jeweilige Rechtsordnung einen integrierten Ansatz verfolgt.

Entscheidend ist nach dem EGMR, dass die Verfahren "inhaltlich und zeitlich eng verbunden" sind und somit ein kohärentes Ganzes bilden, das den unterschiedlichen Aspekten des Verhaltens gerecht wird und die Konsequenzen in ihrer Gesamtheit verhältnismäßig (z. B. durch Anrechnung der Strafe oder anderweitige Berücksichtigung) sowie für die Betroffenen vorhersehbar sind. Der EGMR beschränkt diese integriert dualen Verfahren auf Sanktionen, die ergänzend zu gerichtlichen Strafen von Verwaltungsbehörden verhängt werden und einem komplementären Zweck dienen, der über die mit der gerichtlichen Strafe verfolgten Zwecke hinausgeht.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) verlangt nach Art. 50 der EU-Grundrechtecharta strengere Voraussetzungen für die Anwendung des integrierten Ansatzes und damit für Zulässigkeit paralleler bzw. komplementärer Verfahren und Sanktionen. Nach Ansicht des EuGH in den drei Entscheidungen Garlsson Real Estate u. a., Di Puma und Zecca sowie Menci (alle am 20.3.2018 ergangen) ist die Verhängung von Steuerzuschlägen neben Kriminalstrafen grundsätzlich noch zulässig, jedoch ist die Verhängung von Geldbußen in Millionenhöhe als Verwaltungsstrafe (wegen Marktmanipulation) und eine Bußgeldverhängung als verwaltungsrechtliche Sanktion (wegen Insiderhandels) ausgeschlossen, wenn in der Sache bereits ein rechtskräftiges Strafurteil vorliege, und zwar selbst dann, wenn es sich um einen Freispruch handelt.

Ermittlungen seit vier Jahren

Seit bald vier Jahren ermitteln in Österreich die Kartellbehörden und Staatsanwaltschaften gegen eine bislang nicht vorstellbar große Zahl von Bauunternehmen und Individuen – einerseits wegen wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Vergabeverfahren (§ 168b Strafgesetzbuch) und andererseits wegen verbotener Preisabsprachen (§ 29 Kartellgesetz). Die sich vor dem Hintergrund insbesondere der Rechtsprechung des EuGH aufdrängende Frage der Zulässigkeit derartiger Parallelermittlungen ist im sogenannten Baukartellfall in vielerlei Hinsicht virulent geworden. Bislang schien diese grundsätzliche Problemstellung hierzulande niemanden sonderlich zu irritieren, weder dogmatisch noch praktisch.

In einer gerade erschienenen Monografie von Prof. Gerhard Dannecker, Universität Heidelberg, wird mit Fokus auf die laufenden Verfahren im Zusammenhang mit dem Baukartell die Rechtsmeinung vertreten, dass kriminalstrafrechtliche Sanktionen und Kartellgeldbußen gerade nicht komplementären Zwecken dienen und auch nicht den Voraussetzungen des integrierten Ansatzes genügen. Es würde nicht nur die Verhängung einer Kriminalstrafe und einer kartellrechtlichen Geldbuße gegen das Doppelbestrafungsverbot verstoßen, sondern es sei auch bereits die Parallelverfolgung derselben Tat – sogar vor der erstmaligen rechtskräftigen Sanktionierung – verboten. Treffen staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren und wettbewerbsbehördliche Ermittlungsmaßnahmen zusammen, so habe das Strafrecht als schärfstes Sanktionsmittel des Staates aufgrund des erhöhten Unrechts- und Schuldgehalts der Straftat Vorrang.

Aktuell liegen die ersten Fälle beim Kartellgericht. Im Zuckerkartellverfahren wurde bereits 2020 vom OGH wegen des "Ne bis in idem"-Grundsatzes der EuGH zur Vorabentscheidung angerufen. Auch im Baukartellfall könnte dies der Weg sein, ein genuin europastrafrechtliches Problem dort klären zu lassen, wo es wettbewerbsbezogen seinen Ursprung und sein Zentrum hat – bei der Europäischen Union in Gestalt des EuGH in Luxemburg. (Axel Reidlinger, Richard Soyer, 5.2.2021)