Der libanesische Staat hat wohl die meisten seiner Bürger enttäuscht – vor allem jene, die eine Aufarbeitung der Hafenkatastrophe fordern.

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Im Hafen von Beirut stehen 52 Container. Ihr Ziel: Wilhelmshaven in Norddeutschland. Noch muss die Genehmigung für die Überstellung finalisiert werden, die Ladung ist hochgiftig. Es handelt sich um eintausend Tonnen Chemikalien. Unter anderem Schwefelsäure, Salzsäure, Flusssäure, Aceton, Verdünner, Methylbromid, sagt ein Vertreter der Transportfirma Combi Lift dem STANDARD.

Dass im Beiruter Hafen weit mehr Giftstoffe gelagert wurden als die am 4. August 2020 in Brand geratenen 2750 Tonnen Ammoniumnitrat, hatte die Bevölkerung in den Tagen nach der tödlichen Detonation, bei der mehr als 200 Menschen starben, erfahren. Doch als Combi Lift im Oktober 2020 ein Team zur Entsorgung nach Beirut entsandte, fanden die Experten weiterhin bestürzende Verhältnisse vor: Haufenweise Giftstoffe, die ohne angemessene Sicherungsmaßnahmen gelagert wurden und teils miteinander reagierten.

Mitarbeiter des deutschen Unternehmens filmten, wie eine gelbe, blubbernde Brühe ihren Weg in die Kanalisation der Stadt fand. Weil die Behörden keine Bestandslisten führten, wusste die Entsorgungsfirma anfangs nicht einmal, mit welchen Substanzen sie es zu tun hat. Combi Lift spricht von "einzigartigen" Zuständen, so etwas habe man noch nicht gesehen. In ihrer Summe hätten die vorgefundenen Chemikalien das Potenzial gehabt, eine zweite Detonation ähnlichen Ausmaßes zu verursachen, so der Unternehmenssprecher.

DER STANDARD

Doch nicht nur bei der Entsorgung zeigt sich der Staat handlungsunfähig. Auch die Untersuchungskommission, die innerhalb weniger Tage die Verantwortlichen für die Hafenkatastrophe ausmachen sollte, hat noch keine Resultate zutage gefördert. Stattdessen sitzt unter anderen jener General, der die Regierung im Frühjahr vor dem Gefahrenpotenzial gewarnt hatte, in Haft.

Als Hinterbliebene deshalb kürzlich vor dem Wohnhaus des ermittelnden Richters demonstrierten, wurden sie von Polizisten gewaltsam zurückgedrängt. Auch als die Familien der Opfer am vierten Februar, genau sechs Monate nach der Explosion, erstmals am "Ground Zero" im Hafen trauerten, folgte die nächste Schreckensbotschaft: Lokman Slim, ein säkularer Schiit und erklärter Gegner der Hisbollah, wurde ermordet in seinem Auto im Süden des Landes aufgefunden, wo die Schiitenpartei regiert.

Mord an Intellektuellem

Die vier Kopfschüsse lassen auf ein politisches Motiv schließen. Es handelt sich wohl um das erste Attentat auf einen in der Öffentlichkeit stehenden Intellektuellen seit Jahren. Slim hat laut einer libanesischen Journalistin zuletzt zu angeblichen Geldwäschemethoden der Iran-nahen Hisbollah recherchiert.

Politische Morde werden im Libanon so gut wie nie aufgeklärt. Slims Frau, eine deutsche Filmemacherin, fordert daher internationale Ermittlungen. Das fordern auch Familien der Explosionsopfer. Wie schon nach der Hafenkatastrophe versprach Premier Hassan Diab in dem Mordfall eine zügige Aufklärung. Er wurde zwar nach der Explosion abgesetzt, ist aber noch immer im Amt.

Die Lage im Land hat sich durch die Explosionskatastrophe im August und die Pandemie verschärft.
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Politische Blockade

Sein Vorgänger und designierter Nachfolger Saad Hariri scheitert daran, eine Einheitsregierung aus Experten auf die Beine zu stellen. Diese soll den Vorlagen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron entsprechen und rasch wichtige Reformen umsetzen. Etwa die Gründung einer Antikorruptionsbehörde und die Revision der Zentralbank, dessen langjähriger Chef mit Geldwäschevorwürfen in der Schweiz konfrontiert ist. Andernfalls fließen keine Gelder an den maroden Staat, in dem auch ein Großteil der Banken insolvent sein dürfte.

Vor allem der Präsident des Landes, der Christ Michael Aoun, der von der Hisbollah gestützt wird, stellt sich quer. Keine der Parteien scheint bereit, Einfluss einzubüßen, selbst wenn sie dadurch Chancen auf internationale Hilfen in Milliardenhöhe verpassen. "Entweder schaltet sich die internationale Gemeinschaft ein, oder der Libanon wird das nächste Somalia", warnt deshalb Hariris Zukunftspartei, die als langjähriger Bestandteil der libanesischen Polit-Elite ebenfalls wenig Vertrauen in der Bevölkerung genießt – sowie auch ihre Verbündeten, die arabischen Golfstaaten.

Armut betrifft drei Viertel der Bevölkerung

Besonders deutlich ist das in der Hafenstadt Tripoli, eigentlich eine sunnitische Hochburg. Dort eskalierten Ende Jänner Proteste gegen die schlechte Wirtschaftslage und die massiven Ausgangsbeschränkungen in der Corona-Pandemie. Medienberichten zufolge setzte die Polizei scharfe Munition ein. Zwei Menschen starben, 30 Aktivisten wurden festgenommen.

Sunnitische Politiker behaupten, dass "außerstädtische Kräfte" die Verantwortung für die Eskalation tragen. Fakt ist: Der Libanon erlebt seit zwei Jahren einen drastischen wirtschaftlichen Verfall. Die Pandemie wirkt dabei als Brandbeschleuniger: Die Devisenvorräte des Landes sind massiv gesunken, die libanesische Lira hat zum Dollar mehr als 80 Prozent an Wert verloren. Noch zu Beginn der Krise haben Banker mehrere Milliarden US-Dollar ins Ausland und damit in Sicherheit gebracht. Manchen Schätzungen zufolge dürften bis zu 75 Prozent der Gesellschaft nun in Armut leben – vor Ausbruch der Pandemie waren es knapp 45 Prozent. (Flora Mory, 16.2.2021)