Karin Smirnoff, "Mein Bruder". Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. 24,70 Euro / 336 Seiten. Hanser, Berlin 2021

Cover: Hanser

Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft. Sie ist aber auch die Keimzelle der Gewalt. Wie diese Saat aufgeht, wie man diesen Kreislauf, der kein unausweichlicher ist, durchbrechen kann, davon handelt Karin Smirnoffs Debütroman Mein Bruder.

In Schweden ist das 2018 unter dem Titel Jag for ner till bror (in etwa: "Ich fuhr runter zum Bruder") erschienene Buch ein Bestseller, nominiert für den renommiertesten schwedischen Literaturpreis Augustpriset. Hauptfigur ist in diesem wie in den weiteren zwei, noch nicht ins Deutsche übersetzten Teilen der Reihe Jana Kippo. Sie ist Mitte 30 und reist aus Luleå nach Smalånger, in das Dorf ihrer Kindheit. Dort, auf dem Kippo-Hof, lebt ihr Zwillingsbruder, der dabei ist, sich zu Tode zu saufen.

Das Buch beginnt mit einem Schneesturm, der Jana daran hindert, geradewegs zu ihrem Bruder zu kommen und sie beinahe buchstäblich in die Arme des Künstlers John treibt, der auf einem der Nachbarhöfe lebt und, auch er, dabei ist, sich zu Tode zu saufen. Mit ihm wird sie bald eine so leidenschaftliche wie zerstörerische Affäre beginnen.

Tratsch und Tristesse

Überhaupt schlägt sie in ihrem Heimatort schneller Wurzeln, als ihr lieb ist, sie beginnt beim Altenpflegedienst zu arbeiten, und langsam erfährt man mehr über Jana Kippo, ihre Familie, diesen Ort. Auf Schwedisch nennt man solche Gegenden "glesbygd", dünn besiedelte Landstriche, an denen der Tratsch und die Tristesse blühen.

"Inzest und Humor in Smalånger" nannte Svenska Dagbladet die Rezension des Buches, und das trifft es gut. Der Vater der Zwillinge trinkt, den Sohn schlägt, die Tochter vergewaltigt er. Die Mutter flüchtet sich in die Religion und sieht weg.

Aber die Kippos sind bei weitem nicht die einzige kaputte Familie an diesem Ort: Überall wuchert die Gewalt, wird gesoffen, gelogen und betrogen. Dass das erträglich und lesbar bleibt, ist dem trockenen Humor zu verdanken, den Karin Smirnoff ihrer Hauptfigur Jana mitgegeben hat – ein Mensch, der Fehler macht, anderen oft unabsichtlich wehtut und einem trotzdem ans Herz wächst.

Soziales Erbe

Die Gewalt, erzählt Smirnoff im Zoom-Gespräch, interessiere sie vor allem als Gesellschaftsfrage, eben weil sie so gewöhnlich sei, weil besonders Frauen ihr in so großem Ausmaß ausgesetzt seien. "Ich tue mich schwer, es als ein Buch zu sehen; für mich sind es drei Bücher, die ich gebraucht habe, um die Frage zu untersuchen: Was ist Gewalt?"

Drei Bücher, die Jana-Kippo-Reihe also, auch um zu sehen, wie es für die Hauptfigur möglich ist, sich diesem sozialen Erbe zu entwinden – nicht zuletzt durch Kreativität: In Mein Bruder sind es Tonfiguren, die sie von den Männern ihres Lebens, dem "Säufertrupp", knetet.

Smirnoff ist Jahrgang 1964, oft wird hervorgehoben, wie reif ihr Debüt ist. Dabei ist sie Debütantin nur am Literaturmarkt, nicht im Schreiben: Während sie Altenpflegerin oder Journalistin für Kundenmagazine war, hat sie immer literarisch geschrieben.

Bereits vor Mein Bruder schrieb sie "zwei oder drei Romane, um zu üben". Diese Sicherheit merkt man dem Roman an – genauso wie man manchmal meint, ihm anzumerken, dass sie sich mit dem ersten Kapitel an einer Schreibschule bewarb und den Roman im Zuge dieser Ausbildung schrieb.

Kreislauf der Gewalt

Manchmal wirkt der Plot konstruiert, die Spannung wird fast zu souverän aufgebaut und gehalten. Dass das kaum ins Gewicht fällt, liegt vor allem an der Sprache, die Smirnoff gefunden hat. Sie arbeitet dabei auch mit regionalen Ausdrücken, das schwedische Aftonbladet fragte, ob man Västerbotten-Dialekt beherrschen müsse, um alles zu verstehen (Antwort: Nein).

Ursel Allenstein versucht merklich, dafür in ihrer deutschen Übersetzung eine Entsprechung zu finden – dass sich viele Nuancen des nordschwedischen Idioms nicht ohne Verluste ins Deutsche übertragen lassen, kann man ihr kaum vorwerfen.

Und auch das ändert nichts daran, dass es ein starkes Buch ist, das sich mit Themen auseinandersetzt, die hier genauso wichtig sind wie in der schwedischen Einöde: der Kreislauf der Gewalt und wie er sich stoppen lässt. (Andrea Heinz, 6.2.2021)