Der Historiker Gert Kerschbaumer beschäftigt sich mit dem Nationalsozialismus und recherchiert die Biografien zu den Salzburger Stolpersteinen. Seine Stolpersteinchen im Leben sind Kafka und Katzen.

"Manche Sachen schleichen sich mit der Zeit ein, und irgendwann einmal weiß man gar nicht mehr, warum das so ist. Zum Beispiel die Tatsache, dass die Couch das Revier meiner Frau Doris ist, während ich im Laufe der Zeit den Lederfauteuil in Besitz genommen habe. Hier sitze ich, hier rauche ich Pfeife, hier schaue ich in den Garten hinaus. Und damit ich niemanden mit dem Rauch belästige, haben zwischen uns locker ein, zwei Babyelefanten Platz.

Wohnen mit Geschichte und Supermarktlilien: Gert Kerschbaumer und seine Frau Doris zu Hause.
Foto: Anna Aicher

Wir wohnen in Salzburg-Aigen. Früher war das ein schönes Erholungsgebiet, und es gibt vereinzelt noch ein paar entzückende Holzhäuser aus dieser Zeit. Aber natürlich wurde Aigen mit den Jahren und Jahrzehnten mehr und mehr zugebaut, sodass die Gegend von ihrem damaligen Charme mittlerweile viel eingebüßt hat. Das Gute ist: Mit dem Rad bin ich in 20 Minuten in der Stadt. Mit dem Auto geht’s auch nicht schneller. Und so spornt die Wohnlage zu einem gewissen Mindestmaß an körperlicher Bewegung an.

Gefunden haben wir das Haus 1984. Ich kann mich noch genau an meinen allerersten Eindruck erinnern, als wir reingekommen sind: Überall Türen und Korridore! Ich mag Korridore nicht, da muss ich immer an behördliche Ämter denken, an lange Flure mit viel zu vielen verschlossenen Türen. Ich habe zu meiner Frau gesagt: ,Die Wohnung mag ich nicht. Das ist wie in einem Kafka-Roman! Lass uns weitersuchen!‘

"Was die Einrichtung betrifft, so ist hier wenig Neues zu finden. Und das Alte, das da ist, hat Beständigkeit und verändert sich kaum", sagt Gert Kerschbaumer.
Fotos: Anna Aicher

Nun denn, meine Frau befand, dass die Suche doch zu Ende sei. Wir haben einige Wände herausgerissen, die Außenwand entfernt und eine verglaste Veranda angebaut – und plötzlich war die Wohnung nicht nur viel besser, sondern sogar richtig gut. Und so ist unser Zuhause heute kein Kafka, sondern ein Toscanini – luftig und leicht, und man kann zwischen drinnen und draußen hin- und herpendeln, so wie er zum Dirigieren damals schon zwischen den Kontinenten hin- und hergependelt ist.

Die verglaste Veranda ist überhaupt das schönste Element der ganzen Wohnung. Ein Lichtspender in unserem winzigen Garten, voller Orchideen, Zitrusbäumchen und Corona-bedingten Supermarktlilien. Am liebsten habe ich es, wenn es schneit oder stundenlang der Regen auf die Glasdecke prasselt. Ich empfinde den Regen als Beruhigung. Es regnet oft in Salzburg, manchmal auch zu oft. Na ja, Wien wäre auch nicht besser. Als Pfeifenraucher bei diesen Westwinden ... Unmöglich!

Die verglaste Veranda ist für Gert Kerschbaumer das schönste Element der Wohnung.
Fotos: Anna Aicher

Was die Einrichtung betrifft, so ist hier wenig Neues zu finden. Und das Alte, das da ist, hat Beständigkeit und verändert sich kaum. Sie reden mit einem Historiker! Was haben Sie sich erwartet! Außerdem hatten wir früher eine Katze, und Katzen mögen keine Veränderung. Wann auch immer nur ein Möbelstück verrückt wurde, hat sie geknurrt und uns ins Eck geschissen.

In meinem Arbeitszimmer fange ich manchmal auch an zu knurren. Ich wühle unentwegt in der Geschichte, recherchiere zum Nationalsozialismus, forsche zu den Biografien von Juden und Homosexuellen, damit wir korrekte Namen und Zahlen für unsere Stolpersteine haben, und in dieser ganzen Umzingelung von Büchern und psychischen Lasten wird es mir manchmal zu viel. Alle heiligen Zeiten muss ich ausmisten, schmeiße die Bücher aus den Regalen, trink ein Glaserl Wein, räume die Bibliothek neu ein, und danach geht alles ein bissl leichter.

Die Bibliothek wird immer wieder mal aus- und neu eingeräumt.
Fotos: Anna Aicher

Als Historiker ist man immer ein bissl allein. Aktuell lese ich zum wiederholten Mal Arthur Koestlers Buch "Sonnenfinsternis". Sein letztes Kapitel trägt den Titel "Die grammatikalische Fiktion" und befasst sich mit den drei Buchstaben I, C und H. Je älter ich werde, desto mehr konzentriere ich mich auf das D und U. Das Leben ist nicht ideal, und überhaupt glaube ich nicht an Ideale, denn Ideale werden oft überschätzt und missbraucht. Ich weiß nicht, was ein ideales Leben ist. Aber ich weiß, dass Doris und ich ein richtig schönes Leben führen." (8.2.2021)