Keine Komfortzonen: Carolina Schutti.

Foto: Simon Rainer

Im soeben erschienenen Roman mit dem Titel Der Himmel ist ein kleiner Kreis der Schriftstellerin Carolina Schutti gibt es keine Komfortzonen: In zwei unabhängigen Erzählsträngen schildert die 1976 geborene Tirolerin, die einen Textauszug dieses Romans bereits im vergangenen Jahr beim Bachmann-Wettlesen vorstellte, das Leben zweier Frauen, die das gleiche Schicksal eint: Beide harren an einem Ort aus, die namenlose Ich-Erzählerin in einer sogenannten "Anstalt", die zähe Ina in verfallenen Lagerhallen einer sibirischen Einöde, in der Hoffnung, an der Winterstraße doch noch eine Raststätte eröffnen zu können.

Wer sich auf diesen vielschichtigen Text einlässt, bricht auf ins Ungewisse, unternimmt ein Abenteuer, erlebt Unsicherheit und Einsamkeit, wird aber auch mit beeindruckenden Landschaftsbeschreibungen und psychologischen Erkenntnissen belohnt.

Gleich auf den ersten Seiten stößt man auf ein Gedicht der 1963 verstorbenen amerikanischen Schriftstellerin Sylvia Plath mit dem Titel "Monologue at 3 a.m.", und dies ist gewiss nicht nur als Verneigung vor der Verfasserin von Die Glasglocke zu verstehen. Schuttis literarisches Programm wird von diesem Gedicht vorgegeben, das von einer Frau handelt, die in nächtlicher Einsamkeit ihre Gefühle reflektiert.

Mitten in einem Nirgendwo

Kontroll- und Freiheitsverlust sind die Themen, die Carolina Schutti umkreist, sie spielt mit vermeintlichen Widersprüchen, die bereits im Buchtitel Der Himmel ist ein kleiner Kreis Niederschlag finden.

Carolina Schuttis literarischer Ansatz konzentriert sich auch darauf, ihre Figuren an den Rand der Welt zu stellen, mitten in ein Nirgendwo, um damit psychologischen Grenzerfahrungen auf die Spur zu kommen. Es ist also kein Zufall, dass sich Ina in der sibirischen Einöde durchschlagen muss und die Ich-Erzählerin sich in einer psychiatrischen Einrichtung befindet.

Unaufdringlich und in eine kunstvolle Sprache gebettet, stellt Schutti, die auch Lyrik schreibt, Verbindungslinien zwischen ihren Frauenfiguren her, intuitiv beginnt der Lesende die Ereignisse der beiden Erzählstränge miteinander zu vergleichen, Schilderungen von Zustandsbeschreibungen und scheinbar realen Erlebnissen überschneiden sich.

Das Gefühl der Ich-Erzählerin – "Ich bin ein Lungenfisch in einem schleimigen Kokon, tief im harten Lehm vergraben, auf den eine erbarmungslose Sonne brennt" – deckt sich etwa mit einem grausigen Fund, den Ina im Wald macht: sie entdeckt einen ausgetrockneten See, "trockene Schollen, auf denen Unmengen toter Fische liegen".

Hoffnung auf Erlösung

Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Frauen ist das Ausharren: Ina wartet auf Boris, der ihr versprochen hat, die fehlenden Papiere für die Raststätte zu besorgen. Mark hingegen lässt die Ich-Erzählerin allein in der "Anstalt" zurück.

Beide sind gefangen, einerseits in einer Nervenheilanstalt, andererseits in der Wildnis, die Hoffnung auf Erlösung bleibt unbestimmt. Schutti überlässt nichts dem Zufall, nie ist ein Wort zu viel, jedes Symbol wurde mit Bedacht gewählt, der tote Fisch etwa, ein Sinnbild für verlorene Lebensfreude.

Manchmal stößt man auf Buchseiten, auf denen nur ein einziger Satz steht. An einer Schlüsselstelle heißt es: "Die Welt ist draußen" – also nicht in der Einöde Sibiriens, auch nicht in einer psychiatrischen Einrichtung.

Beide Figuren, die Ich-Erzählerin, aber auch Ina, verbindet das gleiche Problem: Ihr Empfinden ändert sich schlagartig, wie die sibirischen Jahreszeiten; so heißt es in einer Passage: "(...) der Winter komme hier übergangslos, von einer Stunde auf die andere, falle aus einem sich in kürzester Zeit verdunkelnden Himmel über das flache, schutzlose Land."

Wenn Schutti diese dichten, menschenleeren sibirischen Wälder beschreibt, durchzogen von sumpfigem Moor, dann fühlt man mit jedem Wort die Einsamkeit, riecht die nasse Erde, die ein Weiterkommen verhindert. Diese Seelenlandschaften erzeugen Erschütterung, entwickeln aber auch eine zeitlos schöne Strahlkraft.

Schule der Empathie

Die Vielschichtigkeit dieses Romans lässt besonders viele Lesarten zu. Schutti setzt nicht nur auf eine einzige Wahrheit, auch zerrt sie niemanden durch einen vorgefertigten Plot. Der Interpretationsspielraum wirft aber grundlegende Fragen auf: Kann man der eigenen Wahrnehmung vertrauen? Wie steht es um den Wahrheitsgehalt des Erzählten?

Immer wieder hält man beim Lesen inne, prüft das Gelesene erneut. Es ist wie Gehen auf dünnem Eis. Damit hinterlässt dieser Text viele Unsicherheiten und verlangt seinen Leserinnen einiges ab, doch gleichzeitig erinnert er uns daran, dass niemand dagegen gefeit ist, unvermutet in einen Abgrund zu fallen, in dem das große Himmelszelt plötzlich nur mehr als kleiner Kreis erscheint.

Dieser Roman ist niederschmetternd schön, er schult die Fähigkeit zu Empathie immer wieder aufs Neue und zeigt einmal mehr, dass die menschliche Seele ein komplexes, vor allem aber ein fragiles Gefüge ist. (Gerlinde Tamerl, 6.2.2021)