In vielen Orten Europas war schon lange bekannt gewesen, dass das Durchmachen der Kuhpocken vor der Infektion mit den Pocken schützt. Dieses Wissen hatte an manchen Orten dazu geführt, dass Personen absichtlich der Ansteckung durch kuhpockenkranke Rinder ausgesetzt wurden. Doch auch dieses Wissen hatte Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht Eingang in die medizinischen Wissenschaften gefunden, es musste erst "entdeckt" werden. Es bedurfte der Versuche des britischen Arztes Edward Jenner (1749–1823), um daraus eine anerkannte prophylaktische Methode gegen die Pockeninfektion zu machen. Es ist typisch für die Medizingeschichte, dass es solche "Heldengeschichten" braucht. Besonders dann, wenn es darum geht, schon vorhandenes Wissen zu etablieren.

Jenners Heldengeschichte

Jenner überschritt damals einige heute gültige ethische Grenzen. Nachdem er bereits 1789 seinen anderthalbjährigen Sohn mit Schweinepocken geimpft hatte, übertrug er am 14. Mai 1796 Pustelinhalt von der Hand einer Melkerin, die an Kuhpocken erkrankt war, auf den Arm eines achtjährigen Knaben. Zum Beweis des wirklich vermittelten Schutzes infizierte er diesen am darauffolgenden 1. Juli mit echten Pocken, ohne dass der Junge erkrankte. Erst nach Wiederholung seines Versuchs publizierte Jenner ab 1798 diese und weitere Untersuchungen.

Die Nachricht von Jenners Entdeckung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Ein zweiter Arzt holte von verschiedenen Meiereien in ganz England Nachrichten über die Verbreitung der Kuhblattern und die Häufigkeit der Menschenblattern ein und konnte wenig später Jenners Beobachtungen bestätigen. An vielen Orten wurden Versuche und Gegenversuche unternommen; vehemente Gegner waren ebenso rasch auf dem Plan wie flammende Befürworter. Bis 1801 hatte Jenner bei ungefähr 7.500 Personen seine Impfung durchgeführt, durch deren Wirksamkeit bei der nachfolgenden Inokulation mit Pocken er die vielfach geäußerten Zweifel widerlegen konnte. Zur Unterscheidung der neuen Jenner'schen Methode von der bisher geübten Einimpfung der Menschenblattern sprach man bald von "Vaccination" für erstere und von "Variolation" für letztere.

Edward Jenner impft ein Kind mit dem Kuhpockenserum.
Foto: Wellcome Collection. Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)

Ein Schweizer holt das Kuhpockenserum nach Wien

Die Kunde von Jenners Erkenntnissen war rasch nach Wien gedrungen. Am 29. April 1799 unternahm Pascal Joseph Ferro – ein gebürtiger Bonner und Sohn eines aus Tarvis stammenden Offiziers – die erste Impfung mit Kuhpocken in Wien und auch in Kontinentaleuropa. Ferro impfte seine Kinder. Um zu sehen, wie sich die Materie bei der Verpflanzung von Mensch zu Mensch verhielt, bat er einen jener Kollegen, die die Impfversuche an seinen Kindern beobachtet hatten, ihm sein Kind für einen weiteren Versuch zu überlassen. Der gebürtige Schweizer Jean de Carro, der in Edinburgh studiert hatte, stellte dafür seinen zehn Monate alten Buben zur Verfügung. De Carro war es auch, der den Kuhpockenimpfstoff nach Wien gebracht hatte: Er erhielt den Impfstoff von einem seiner Studienkollegen aus Edinburgh, Alexander G. Marcet (1770–1822), der damals im Guy's Hospital in London tätig war.

Die Pocken schlagen zurück, und die Variolation versagt

Gerade zu dieser Zeit wüteten die Pocken in ihrer verheerendsten Form. 1802 veröffentlichte Zahlen gingen davon aus, dass jährlich über 600.000 Menschen in Europa an den Pocken sterben würden. In Österreich unter der Enns wären es im Durchschnitt 2.000 pro Jahr, das hatte ebendieser Pascal Joseph Ferro, der in diesen Jahren zum wichtigsten Medizinalreformer der Monarchie aufgestiegen war, berechnet. Doch diese Zahl konnte in Epidemiejahren sogar noch steigen. Widerstand gegen die Blattern erschien zwecklos. Der Horror dieser Krankheit wird in Ferros Worten deutlich: "Selbst die Flucht, das Rettungsmittel vor der Pest, ist hier unkräftig, und so ist nun dieses Übel ein Erbtheil für alle Menschen geworden." Die Sterblichkeitsraten waren katastrophal: Jeder Fünfte starb an den Blattern, von befallenen Erwachsenen jeder Dritte und zu Zeiten von Epidemien manchmal sogar jeder Zweite.

Darüber, wie Krankheiten sich verbreiten, besaßen selbst die besten Ärzte kaum gesichertes Wissen. Zwar hatte die Erfahrung einiges gelehrt, und schon bestanden einzelne Konzepte von kleinsten Teilchen, die zur Krankheitserzeugung beitragen konnten, doch von den Grundlagen der Virologie, die heute jedem vertraut sind, war man buchstäblich noch Jahrhunderte entfernt. Überraschungen und katastrophale Fehlschläge waren an der Tagesordnung. Im Mai 1800 schienen die Blattern in Wien fast verschwunden zu sein, den impfenden Ärzten fiel es schwer, überhaupt Kinder mit Blattern zu finden. Als man sie doch fand, zeigten sich diese "Impfblattern" plötzlich besonders aggressiv. Nun starb auf einmal eines von 18 geimpften Kindern, und manche waren nur "mit äußerster Mühe beym Leben erhalten" worden.

Im Sommer brach in der Stadt eine furchtbare Epidemie aus, die womöglich durch die Impfung erst verbreitet worden war. Unter diesen Umständen brach das Vertrauen in die Inokulation zusammen, und selbst die "Sanitätsverwaltung", die sich in Österreich so sehr für die Einführung der Inokulation eingesetzt hatte, musste ihre Anwendung reglementieren: In Städten, wo Menschen eng zusammenlebten, fordere "das Bürgerwohl sie auf, Behutsamkeit anzubefehlen, die Impfung in volkreichen Städten zu verbiethen und dieselbe nur in entlegenen, geräumigen Wohnungen zuzulassen, wo die Ausbreitung der Krankheit weniger zu fürchten ist", musste selbst der Impfbefürworter Ferro feststellen. Die Epidemie kostete allein in Wien 3.180 Kinder das Leben. Die Stadt hatte damals etwa 250.000 Einwohner. "Seit Menschengedenken" seien nicht mehr so viele Kinder gestorben, berichtete Ferro resigniert.

Ausschnitt der Titelseite zu Pascal Joseph Ferros Schrift "Über den Nutzen der Kuhpockenimpfung", Wien 1802.
Foto: public domain

Die Kuhpockenimpfung kommt

Mitten in der Angst und Unsicherheit der Blatternepidemie von 1800 in Wien und des Versagens der Variolation traf die Nachricht von der Kuhpockenimpfung zunächst auf Widerstand. Wieder waren es Ärzte, die sich der Kuhpockenimpfung entgegenstellten. Einer der mächtigsten Gegner unter den Privatärzten war auch noch in späteren Jahren der Kinderarzt Leopold Anton Gölis (1764–1827), der behauptete, dass die Kuhpocken andere Krankheiten hervorriefen, die weit schlimmer seien als die Menschenblattern.

Ferro, der dem medizinischen Establishment der Stadt angehörte, blieb also vorsichtig. Während er seine weiteren Versuche zunächst vorübergehend einstellte, setzten zwei andere junge in Wien ansässige Ärzte, die weniger zu verlieren hatten als Ferro, diese Versuche fort: Jean de Carro und Luigi Careno (1766–1810). Nachdem die Pocken im Sommer 1800 in Wien fürchterliche Verwüstungen angerichtet hatten, nutzte de Carro die erhöhte Risikobereitschaft der Bevölkerung und nahm am 10. Dezember 1800 in Brunn am Gebirge die erste Massenimpfung in Kontinentaleuropa vor. Die "Vaccination" mit den Kuhpocken hatte durchschlagenden Erfolg, und de Carro sollte für einige Jahre zu einem der gefragtesten Impfexperten der Welt werden. (Marcel Chahrour, 10.2.2021)

Fortsetzung folgt.