Geschlossene Schulen ließen überforderte und verzweifelte Kinder zurück: "Frau Lehrerin, wie soll ich das allein schaffen? Ich versteh es einfach nicht."

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Seit Beginn des Lockdowns war der Bub wie vom Erdboden verschluckt. In der Schulbetreuung ließ er sich nicht blicken, auf E-Mails kam keine Antwort, Anrufe bei den deponierten Notfallnummern landeten an einem toten Ende.

Eineinhalb Wochen hat seine Lehrerin den Elfährigen gesucht – bis einer Kollegin zufällig der um zwei Jahre ältere Bruder über den Weg lief. Die Eltern, stellte sich heraus, waren seit 14 Tagen nicht mehr bei den Kindern gewesen.

"Wir sind ständig Schülerinnen und Schülern nachgelaufen, die verloren gegangen sind", erzählt Eva H.*, "manchen bis vor die Haustür." Die Wiener Pädagogin unterrichtet an einer jener Mittelschulen, in die – wie sie sagt – "Bobos ihre Kinder nicht schicken".

96 Prozent hätten hier, in einem klassischen Arbeiterbezirk, eine andere Erstsprache als Deutsch, Familien lebten in Zimmer, Küche, Bad und Klo, die Eltern seien oft kein echter Halt. "Die Stunden in der Schule", berichtet die Lehrerin, "sind für viele die einzigen, in denen Sicherheit, Ordnung und Ruhe herrschen."

Überforderung

Das war im Lockdown, der diese Woche ausgelaufen ist, für die Mehrheit passé. Nur etwa ein Zehntel der rund 400 Schülerinnen und Schüler nahm die angebotene Betreuung in Anspruch, weit weniger als in gutsituierten Gegenden: "Die Eltern trauen sich hier gar nicht, etwas einzufordern."

Dass manche dabei völlig abtauchten, erklärt H. nicht nur mit dem Umstand, dass das zwischen Geschwistern geteilte Smartphone oft der einzige Internetzugang ist. Wie die Erziehungsberechtigten – geringe Schulbildung, schlechtes Deutsch – seien oft auch die Kinder "massiv damit überfordert, sich selbst etwas zu organisieren".

Schon in normalen Zeiten sei es an der Tagesordnung, dass Hausaufgaben nicht erledigt würden. "Wenn ich bitte, ein bestimmtes Lehrbuch aufzuschlagen, erwischen sieben Kinder das falsche", erzählt die Pädagogin. "Manche sind richtig arm und verzweifelt. Vor dem Lockdown hat ein Bub geklagt: ,Frau Lehrerin, wie soll ich das allein schaffen? Ich versteh es einfach nicht.‘"

Mangel an Deutsch und Technik

Auch in der Goetheschule, einer Volksschule im Linzer Neustadtviertel, liegt der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei fast 100 Prozent. Vor rund 18 Jahren waren 60 Prozent dort noch österreichische Kinder. Auf den Begriff "Brennpunktschule" reagiert Direktor Stefan Pirc dennoch allergisch: "Weil es einfach eine Vorverurteilung ist. Unsere Kinder haben einfach eine andere Erstsprache, sind aber nicht weniger intelligent."

Aber natürlich sei das Distance-Learning bei Kindern mit schlechten Deutschkenntnissen eine besondere Herausforderung. "Ein Schüler, der noch nicht alphabetisiert ist und die deutsche Sprache nicht beherrscht – da stößt man auf allen Kanälen auf Probleme."

Es gebe daher in Lockdown-Phasen Schüler, die man nicht erreiche. "Wir haben 191 Schüler, bei fünf bis zehn Prozent war es schwierig oder gar nicht möglich", sagt Pirc, die Lehrer würden da an ihre Grenzen stoßen. "Wenn die Dinge nicht erledigt werden, nichts zurückkommt und auch ein Kontakt mit den Eltern kaum vorhanden ist, dann sind die Möglichkeiten der Schule ausgeschöpft." Nachsatz: "Aber auch im Präsenzunterricht hat man immer wieder Schüler sitzen, die zwar da sind – aber auch nur körperlich."

Soziale Schieflage

Im Prinzip sei die Situation also gar nicht so neu – nur dass sich nun auch die Problematik dazugeselle, dass in vielen Fällen die für das Distance-Learning nötige Infrastruktur daheim fehle: "Da hat nicht jeder WLAN, ausreichend Tablets oder Breitband für vier Kinder und die Eltern im Homeoffice."

Extreme Einzelfälle? Eine Studie des Instituts für Höhere Studien legt das Gegenteil nahe. Laut der Umfrage unter 4000 Lehrerinnen und Lehrern waren über alle Schulen gerechnet zwölf Prozent aller Kinder in Volksschule und Unterstufe während des ersten Lockdowns kaum oder gar nicht erreichbar.

Bei benachteiligten Schülern lagen die Quoten hingegen gleich bei 40 Prozent (Volksschulen) und 37 Prozent (Unterstufen). Dabei hapere es beileibe nicht nur an der technischen Ausstattung, erläutert Studienleiter Mario Steiner: "Wer nicht einmal einen ruhigen Raum für sich hat, kann kaum vernünftig arbeiten."

Die soziale Schieflage zieht sich quer durch die Ergebnisse. Ob die Lehrer nun Überforderung oder Kompetenzverlust konstatieren: Stets schneiden jene Schüler, die schon vorher ungünstige Voraussetzungen hatten, schlechter ab. So schaffen es insgesamt über 80 Prozent, Aufgaben selbstständig und gut zu erledigen. Bei den benachteiligten Kindern gelingt dies weniger als 20 Prozent.

Desaströses Zeugnis

Als regelrechtes "Desaster" qualifiziert Steiner aber jenes Zeugnis, das die Lehrerinnen und Lehrer der Unterstützung durch Fachkräfte ausstellen. Schon vor Corona hat nur eine Minderheit den Support durch Sozialarbeiter, Psychologen oder Lernhilfen als ausreichend bewertet. Während der Pandemie sackte der Anteil der Zufriedenen je nach Unterstützungsart auf 27 bis 13 Prozent ab.

Es lässt sich nicht behaupten, dass die Hilferufe gänzlich ungehört blieben. Bildungsministerium und Länder haben zigtausende Laptops und Tablets leihweise an Schüler verteilt, eine Unterstützungsplattform für Homeschooling wurde ebenso gestartet wie ein Programm für mehr Personal in der Administration der Schulen. Erst vergangene Woche hat Minister Heinz Faßmann zwei Förderstunden mehr pro Klasse und Woche versprochen.

Hat das gefruchtet? Als Fortschritt gegenüber dem ersten Lockdown hebt der Experte Steiner Aufrufe in der Debatte hervor, benachteiligte Schüler zur Betreuung in die Schulen zu bringen – und greift auf erste Ergebnisse der zweiten Befragungswelle zum herbstlichen Lockdown vor. Offenbar seien nun mehr Kinder erreichbar, doch in Summe laute das Urteil eher, die Lage der Schülerinnen und Schüler habe sich weiter verschlimmert. Sein Fazit: "Das Bemühen hat sich gebessert, das Ergebnis noch nicht wirklich."

Weil der Kompetenzverlust aus vielen Wochen Lockdown nicht einfach wegzustecken sei, rechnet der Experte etwa mit mehr Schulabbrechern als Folge – was keine Überraschung sei. Schon vor der Pandemie sei Bildungserfolg in Österreich stark von privater Unterstützung abhängig gewesen: "Homeschooling treibt dieses Prinzip auf die Spitze."

Eltern machen den Unterschied

Die Situation zu Hause habe immer schon einen großen Unterschied ausgemacht, sagt auch Lehrerin Eva H.: "Im Lockdown benote ich fast nur mehr die Leistung der Eltern."

Zehn Laptops habe ihre Schule für 400 Kinder bisher erhalten, erzählt H., von extra Hilfspersonal hat sie nichts bemerkt. Am schmerzlichsten vermisse sie aber Vorgaben des Ministeriums, wann Kinder unter allen Umständen in die Betreuung geschickt werden müssen.

Dabei gehe es nicht nur um den Lernerfolg und soziale Fähigkeiten, sagt die Pädagogin, sondern mitunter auch ums leibliche Wohl: "Ob ein Kind genug zu essen kriegt oder geschlagen wird, bemerken wir erst, wenn es in die Schule kommt."

Und doch gibt es in diesen bildungspolitisch heiklen Tagen auch Positivbeispiele. So schildert etwa Heike F.*, Lehrerin an einer Neuen Mittelschule in Linz, dass man nur in Einzelfällen den Kontakt zu Schülern verloren habe: "In meiner vierten Klasse habe ich alle Schüler erreicht, nur zu einem Kind gab es keinen Kontakt." Das über Jahre aufgebaute und erarbeitete gute Verhältnis sei ihr im Lockdown zugutegekommen, sagt sie.

Wichtig sei es, die Eltern im Boot zu haben: "Wir hatten online einen Elternsprechtag und einen Elternabend, was sehr gut funktioniert hat und von den Eltern sehr gut angenommen wurde. Wenn die Eltern aber nicht im Boot sind oder kein Wort Deutsch sprechen, ist es schwierig." Dann müssten im Normalfall Übersetzer eingeschaltet werden oder ältere Geschwister dolmetschen, was in einem Lockdown kaum möglich sei.

Keine Wiederholung

In den Chor jener, die sich wegen der verlorenen Unterrichtszeit für eine gänzliche Wiederholung des Schuljahres aussprechen, stimmt die Linzer Pädagogin nicht ein: "Auf keinen Fall sollte das Jahr wiederholt werden. Meine Schüler haben viel gemacht, und diese Leistung darf ihnen nicht abgesprochen werden." Und sie hätten auch in anderen Bereichen profitiert, wie etwa bei der Computerarbeit oder im Bereich der Selbstständigkeit.

Direktor Pirc spricht sich ebenfalls gegen eine "Pandemie-Ehrenrunde" aus: "Das wäre ein Affront jenen gegenüber, die sich jetzt auf Distanz irrsinnig bemüht haben und fleißig waren. Der Großteil der Schüler hat sehr viel geleistet. Diese Leistung pauschal abzustrafen, indem alle ein Jahr verlieren, finde ich unverantwortlich." (Gerald John, Markus Rohrhofer, 6.2.2021)