Der Mehrwert einer "Kindeswohlkommission" ist unklar, im Gastkommentar sieht die Kinderrechtsexpertin Lioba Kasper den Gesetzgeber gefordert, Leitplanken für die Praxis aufzustellen.

"Kinderabschiebungen stoppen", forderten Volkshilfe, Ex-Raiffeisen-Chef Christian Konrad und Altbürgermeister Michael Häupl diese Woche.
Foto: Christian Fischer

Die Etablierung einer Kommission unter Leitung der ehemaligen Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Irmgard Griss, hat vorerst den Koalitionsbruch verhindert. Ob sie auch zu einer Stärkung von Kinderrechten in asyl- und fremdenrechtlichen Verfahren führt, erscheint fraglich.

Als 2011 Kinderrechte – nach Jahren der Forderung von Kinderschutzorganisationen – mit dem Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern verfassungsrechtlich verankert wurden, stellte dies einen Meilenstein in der Stärkung der Rechtsposition von Kindern dar. Denn die Grundhaltung, Kinder müssen geschützt werden, ist und war mehrheitsfähig; das Bewusstsein, dass es hierfür auch der Mechanismen und Instrumentarien für die Durchsetzung bedarf, fehlte hingegen weitestgehend.

Der Forderung, die Kinderrechte zu stärken, liegt der Gedanke zugrunde, dass Kinder aufgrund ihrer besonderen Vulnerabilität und fehlenden Handlungsfähigkeit, auch in behördlichen oder gerichtlichen Verfahren, besonderen Schutz und Fürsorge benötigen, um sich bestmöglich entwickeln und voll entfalten zu können. Neben dem Gebot, das Wohl des Kindes stets vorrangig zu berücksichtigen, wurden unter anderem der Anspruch auf Kontakt zu beiden Elternteilen sowie das Recht auf angemessene Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung des Kindes umgesetzt. Mit diesem Schritt bekannte sich der Staat klar zur Achtung und zum Schutz des Kindeswohls.

Öffentliche Interessen

Trotz dieser Verbesserung der Rechtsstellung von Kindern bleibt die Achtung des Kindeswohls bei der Prüfung einer Rückkehrentscheidung, bei deren Unzulässigkeit ein "humanitäres Bleiberecht" zu erteilen ist, im Vergleich zu den öffentlichen Interessen an einer wirksamen Rückkehrpolitik vielfach zurück. Seit Jahren fordern daher auf Kinderschutz und auf Asyl- und Fremdenrecht spezialisierte Organisationen, darunter die Kinder- und Jugendanwaltschaft Österreich, die gesetzliche Verankerung einer verpflichtenden und umfassenden Kindeswohlprüfung in asyl- und fremdenrechtlichen Verfahren. Neben Erhebungen zu den Missständen wurden wiederholt auch konkrete Empfehlungen benannt, in welcher Form eine solche Prüfung stattfinden könnte, welche Kriterien relevant sind und wie Kinder in dieser unsicheren Situation bestmöglich geschützt werden können.

Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen haben sich in Praxisleitfäden zur Bedeutung des Kindeswohls im Asylverfahren geäußert und konkrete Handlungsvorschläge sowie Empfehlungen ausgesprochen. Demnach soll eine langfristige und bestmögliche Lösung für das Kind identifiziert werden, die anschließend der Entscheidung über die Erteilung eines Aufenthaltstitels zugrunde gelegt wird. Bei der Bestimmung des Kindeswohls sollte insbesondere der Meinung des Kindes sowie der Einschätzung von allen involvierten Akteuren, wie den Eltern und/oder Lehrerinnen, gegebenenfalls externen Expertinnen wie Psychologinnen zentrale Bedeutung zukommen.

Oft nur Textbausteine

In anfangs zögerlicher, aber mittlerweile gefestigter Rechtsprechung bestätigten auch der Verwaltungsgerichtshof und der Verfassungsgerichtshof, dass das Kindeswohl bei Rückkehrentscheidungen verpflichtend zu berücksichtigen ist. Dennoch wird das Kindeswohl in der Entscheidungspraxis sowohl des für Rückkehrentscheidungen und Abschiebungen zuständigen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wie auch des Bundesverwaltungsgerichts vielfach nur in Textbausteinen der verfahrensabschließenden Entscheidungen abgehandelt. Dies mag zum einen daran liegen, dass konkrete gesetzliche Vorgaben fehlen, die eine verpflichtende Prüfung garantieren. Zum anderen setzt die Maxime des Kindeswohls aber auch ein Umdenken voraus, in welchem der Rechtsstatus als Kind gegebenenfalls schwerer wiegt als der aufenthaltsrechtliche Status als Fremde.

Gesetzlicher Auftrag

Der Mehrwert einer "Kindeswohlkommission" zur Versachlichung der Diskussion sowie zur Erforschung von Missständen in der Rechtslage und in der Entscheidungspraxis erweist sich vor diesem Hintergrund als unklar. Die Missstände sind bekannt, unverbindliche Empfehlungen zu deren Beseitigung gibt es bereits. Es ist an der Zeit, dass der Gesetzgeber die sowohl verfassungs- wie auch europarechtlichen Vorgaben zum Schutz von Kindern – auf der Flucht oder in ungeklärten aufenthaltsrechtlichen Situationen – auch einfachgesetzlich verankert und Leitplanken für die Praxis aufstellt.

Dass die verfassungsrechtliche Verankerung nicht ausreicht, um auch im konkreten Einzelfall dem Kindeswohl zu seiner vorrangigen Bedeutung zu verhelfen, ist offenkundig; und zeigt sich auch im aktuell heiß diskutierten Fall. Es braucht daher den gesetzlichen Auftrag, der den Entscheidungsträgerinnen verpflichtend die Durchführung einer umfassenden Kindeswohlprüfung auferlegt.

Wenn also die Kommission etwas Sinnvolles beitragen kann, dann ist es die Erarbeitung konkreter Gesetzesvorschläge. Ob die politischen Verantwortungsträgerinnen dann auch bereit sind, sich mit diesen Vorschlägen ernsthaft auseinanderzusetzen, um die Situation von Kindern in fremdenrechtlichen Verfahren tatsächlich zu verbessern, wird die Zukunft weisen. (Lioba Kasper, 6.2.2021)