Interims-Justizminister Kogler hat Ex-Höchstrichterin Irmgard Griss beauftragt, die rechtliche Bedeutung des Kindeswohls aufzuzeigen. Ob die ÖVP dabei kooperiert, ist ungewiss.

Foto: Heribert Corn

Die Karenzvertretung für Justizministerin Alma Zadić hätte sich Vizekanzler Werner Kogler wohl einfacher vorgestellt. Seit Tagen liegt Kogler mit Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) im Clinch über nächtliche Kinderabschiebungen, die Regierungsbank hat er zuletzt geschwänzt, um gegen die ÖVP eine eigene Kinderwohlkommission ins Leben zu rufen.

STANDARD: Haben Sie in den letzten Tagen irgendwann überlegt, alles hinzuschmeißen?

Kogler: Überhaupt nicht. Man soll nicht Koch werden, wenn man die Hitze in der Küche nicht aushält. Und: Einfach war es seit Anfang nicht. Ich bin aber nicht in die Regierung gegangen, weil wir es uns einfach machen wollten. Da geht es um Gesamtverantwortung für Österreich, gerade in dieser Pandemie. Wir sind erfolgreich darin, dass die Bewältigung der Wirtschaftskrise und damit auch die Arbeitsplatzfragen in einer ökologisch nachhaltigen Weise angesteuert werden. Was im Klimaschutz passiert, ist "mega"!

STANDARD: Verantwortung bedeutet auch, dass Sie vom Koalitionspartner erwarten, nichts zu tun, was es Ihrer Partei extrem schwer macht.

Kogler: Ich erwarte mir jedenfalls, dass die Menschenrechte eingehalten werden, das ist doch völlig klar. Und klar ist auch, dass es da Grenzüberschreitungen gibt. Wenn ein Konflikt aufbricht, dann erwarte ich mir, dass entlang von gemeinsamen Vereinbarungen und nicht anhand von falschen Behauptungen agiert wird. Da geht es um den Schutz von Kindern. Das geht sich in dem Fall nicht aus, das ist so.

STANDARD: Ihre Koalitionstreue und Ihr Verantwortungsbewusstsein gefallen aber nicht allen Wählern und Funktionären – es gibt Menschen, die wegen der ökologischen Ausrichtung die Grünen wählen. Andere, die vor allem Menschenrechte im Auge haben, haben den Eindruck, dass die Grünen über den Tisch gezogen wurden.

Kogler Wir werden diese zentralen Ziele nicht gegeneinander ausspielen, und wir lassen uns auch nicht gegeneinander ausspielen.

STANDARD: Haben Sie den gesamten Klub noch hinter sich? Nach der hitzigen Diskussion bei der Klubsitzung am Mittwochabend sind ja mit Ewa Ernst-Dziedzic und Faika El-Nagashi zwei ÖVP-kritische Abgeordnete am nächsten Tag nicht zur Nationalratssitzung erschienen.

Kogler: Wir haben gemeinsame politische Ziele, über die Frage, wie wir das langfristig am besten durchsetzen, sehr offen diskutiert. Da unterscheiden wir uns von anderen Parteien. Ich bin auch niemand, der dann "Hü" schreit und eine Richtung vorgibt, zumal ich den Ärger über den Innenminister verstehe. Es war eine klare, gemeinsame Entscheidung, auch mit allen Ländern, die Koalition nicht in die Luft fliegen zu lassen. Deswegen haben wir Grüne ja die Kindeswohlkommission eingerichtet, weil da jetzt mit etwas aufgeräumt werden soll, was der Innenminister völlig falsch dargestellt hat. Dass er und die Behörden rechtsstaatlich keine anderen Möglichkeiten gehabt hätten, das ist völliger Unfug.

STANDARD: Wenn Sie das ohnehin schon wissen: Warum brauchen Sie eine Kommission, wenn der Innenminister den bestehenden Spielraum nicht ausnutzen will?

Kogler: Es macht schon Sinn, die Rechtspraxis und den gesamten Instanzenzug zu durchleuchten. Die Ergebnisse wird die ÖVP dann nicht mehr öffentlich vom Tisch wischen können. Der Innenminister behauptet ja jetzt immer fälschlicherweise, er hätte keinen Spielraum gehabt. Die Kindeswohlkommission unter Leitung von Frau Doktor Griss wird diesen vorhandenen Spielraum und die Notwendigkeiten deutlich aufzeigen.


Einer Kooperation des Innenministeriums mit der Griss-Kommission ist sich Interims-Justizminister Kogler nicht sicher.
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STANDARD: Die erste Instanz beim Asylrecht ist das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) beim Innenministerium. Hat Minister Nehammer zugesagt, dass Ihre Kommission Einblick in deren Akten bekommt?

Kogler: Nachdem ich diesen Schritt sehr rasch gesetzt habe, habe ich den Innenminister nicht gefragt. Die Kommission wird sich jedenfalls mit den Fällen in der zweiten Instanz beim Bundesverwaltungsgericht befassen. Da reichen die öffentlich zugänglichen Unterlagen.

STANDARD: Hat Nehammer Sie angelogen, als er versprochen hat, den Fall Tina gründlich zu prüfen, und sie dann wenige Stunden später abschieben ließ?

Kogler: Das Ergebnis zeigt jedenfalls, dass er auf eine intensive Prüfung offenbar verzichtet hat. Möglicherweise weil er ablenken wollte – in seinem Ressort und um seine politische Verantwortung bestehen ja auch sonstige Schwierigkeiten. Sonst bleibt mir kein politischer Schluss aus seinem Verhalten übrig.

STANDARD: Sie sind jetzt ein Jahr in der Koalition. Nach Moria und den Abschiebungen: Würden Sie mit dem heutigen Wissen über das Agieren der ÖVP das Programm und die Zuständigkeiten in Migrationsfragen wieder so verhandeln?

Kogler: Klar ist, dass wir mit der ÖVP die Asylgesetze nicht nach unseren Vorstellungen ändern können, aber das ist nicht die zentrale Kritik im aktuellen Fall. Der jetzige Konflikt fußt nicht auf dem Regierungsprogramm, denn wir haben dort nirgends kinderfeindliche Abschiebungen vereinbart. Genau deshalb kritisieren wir diese Aktion des Innenministers auch scharf.

Kogler will ÖVP-Projekte nicht blockieren, sondern zu gemeinsamen Lösungen finden. Das sei auch ein Gebot der Pandemie.
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STANDARD: Viele Ihrer Wähler erwarten aber in Menschenrechtsfragen Erfolge der Grünen.

Kogler: Im Nationalrat gibt es derzeit keine Mehrheiten für unsere Linie in diesen Fragen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass auch in der ÖVP ein massiver Druck entsteht, das Kindeswohl zu respektieren und zu schützen – die Debatte ist dort im Gange, wie man auch an den klaren Positionen vieler Bürgermeister, der christlich-sozial geprägten Basis und kirchlichen Organisationen sieht.

STANDARD: Bisher konnten Sie die ÖVP-Spitze nicht überzeugen. Wieso machen Sie nicht Druck, indem Sie türkise Prestigeprojekte blockieren?

Kogler: Das ist das normale politische Geschäft. Manche Dinge, die die ÖVP will, passieren nicht. Gerade auch eine Verschärfung von Gesetzen. Aber es ist nicht das Ziel von Politik, nur zu blockieren, gerade in einer Gesundheits- und Wirtschaftskrise. Umgekehrt sieht man bei den Transparenzpaketen und der Ökologisierung, dass Teile der ÖVP, etwa der Wirtschaftsbund, ganz ordentlich aufstampfen. Aber es ist natürlich besser, wenn man gemeinsam zu Lösungen kommt. Im Menschenrechtsbereich werden wir diese inhaltliche Auseinandersetzung weiterhin führen.

STANDARD: Ist die ÖVP lernfähig?

Kogler: Ich glaube, dass die meisten Menschen in diesem Land nicht verstehen, warum mitten in der Nacht gut integrierte, in Österreich geborene Schulmädchen aus dem Bett geholt und abgeschoben werden. Das kann auch für die türkise Spitze ein Problem werden, wenn sie merkt, dass das nicht mehrheitsfähig ist, was da passiert.

STANDARD: What happens in the long run? Wird Tina eines Tages nach Österreich zurückkommen und Österreicherin werden?

Kogler: Das ist sicher nicht einfach – in the long run ist das aber möglich und wünschenswert. Kurzfristig wird man sehen, welche Möglichkeiten es gibt, die die Rechtsvertretung zutage fördert – und wo es Ansätze für die Politik gibt. Es ist jedenfalls unsere Verantwortung, nach Wegen zu suchen. (Theo Anders, Conrad Seidl, 5.2.2021)