Das Konsumverhalten in all seinen Facetten treibt Frank Trentmann um. Der deutsche Historiker hat mit dem Buch Herrschaft der Dinge ein monumentales Werk darüber verfasst, was Menschen in der Geschichte konsumiert haben. Im Gespräch im Rahmen der Interviewserie zu den großen Wirtschaftsfragen von morgen stellt er nicht nur Reise- und Konsumgewohnheiten infrage.

STANDARD: Sie haben sich intensiv mit Konsumgewohnheiten beschäftigt. Wie ticken wir in Krisenzeiten?

Trentmann: Das meiste, das wir konsumieren, sind wirklich Gewohnheiten. Sie werden zu Routinen, über die wir gar nicht mehr so richtig nachdenken. Die Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932 etwa hat in fast allen Teilen der Welt riesengroße Arbeitslosigkeit geschaffen, die Menschen mussten sowohl mit Unsicherheit, aber auch mit dem Wegfall von Einkommen ohne große staatliche Unterstützung fertig werden. Die meisten der damaligen Zeitgenossen haben aber nicht ihre Konsumgewohnheiten über den Haufen geworfen.

STANDARD: Sondern?

Trentmann: In New York war zum damaligen Zeitpunkt das Außer-Haus-Essen schon weitverbreitet. Da sind die Menschen eben nicht mehr ins Restaurant gegangen, sondern zum billigen Diner um die Ecke. Man könnte annehmen, dass sich die Leute, wenn sie wenig Geld haben, mal überlegen, ganz auf modische Kleidungsstücke zu verzichten. Das ist nicht passiert. Die verschiedenen Saisonen liefen weiter, nur mit günstigeren Produkten.

STANDARD: Ein Klassiker der Sozialwissenschaften ist die Studie über die Arbeitslosen in Marienthal. Was weiß man von den Konsumgewohnheiten während der großen Krise?

Trentmann: Marienthal war in den 1920er-Jahren eine Hochburg der Textilindustrie, hauptsächlich mit weiblichen Arbeitskräften. Die haben in den 1920er Jahren auch viele gute Jahre gehabt, und viele der Arbeiterfrauen haben sich an eine gewisse Art von Komfort gewöhnt. Dann kam die große Wirtschaftskrise. Die Sozialwissenschafter Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda sind dorthingezogen, um zu beobachten, wie sich die Bevölkerung mit der Krise auseinandersetzt. Diese einjährige Forschung hat gezeigt, dass viele der arbeitslosen, armen, verwundbaren Frauen daran festhalten wollten, wie sie konsumiert haben. Da gibt es Beispiele von einer Arbeiterfrau, die ihren Garten nicht für die eigene Kartoffelzucht bereitstellt, sondern weiterhin wunderschöne Blumen züchtet, die sie abschneidet und damit ihr Haus verschönert; oder Mütter, die sich den letzten Brotkrümel absparen, damit sie weiterhin Süßigkeiten für die Kinder kaufen können.

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Zur Biennale nach Berlin, zum Sonnetanken nach Mauritius, zum Partymachen nach Rio – die Welt ist für viele Menschen klein geworden.
Foto: Reuters / Bruno Domingos

STANDARD: Wir Menschen tun nicht immer, was von uns erwartet wird?

Trentmann: Ja, es ist ganz interessant, dass sich die Menschen in Krisen eben nicht unbedingt so verhalten, wie einige Wirtschaftswissenschafter meinen. Sie wägen nicht nur rational ab und überlegen, was ergibt jetzt Sinn und was nicht. Selbstverständlich wird jetzt mehr gespart aus Angst, und mehr Menschen bleiben den Konsumtempeln fern. Aber das ist nur ein Teil unseres Konsums. Vieles ist Teil unseres Alltags geworden, und wir versuchen, daran festzuhalten.

STANDARD: Das wäre ja eine gute Nachricht in der aktuellen Krise. Reisen, fein essen gehen, ein bisschen einkaufen, ehe man ins Theater geht, das geht derzeit nur eingeschränkt. Viele warten, dass der Konsum wieder anspringt und es weitergeht wie zuvor.

Trentmann: Das ist höchst unwahrscheinlich. Krisen, wie wir sie jetzt erleben, sind nicht ein temporärer Filmschnitt, bei dem man die Streifen dann einfach wieder zusammenkleben kann. Die Gesellschaften werden anders rauskommen, als sie in die Krise reingegangen sind. Da wundert es mich schon, dass es in der Europäischen Union nicht mehr kreative Initiativen gibt, um sich zu überlegen, wie wir Lektionen aus der Pandemie ziehen und wie wir vielleicht anders leben können.

STANDARD: Wie könnte das denn aussehen?

Trentmann: Das hängt davon ab, wie unsere Städte und Gemeinden den Konsum nach der Pandemie gestalten wollen. Das hat viel mit Mobilität, Städteplanung und Verkehr zu tun. Die positive Sichtweise ist, dass viele Menschen ihre Reise- und Urlaubsgewohnheiten im letzten Jahr dramatisch ändern mussten. Sie konnten nicht für zwei, drei Tage auf eine tropische Insel fliegen oder kurz zu einer Ausstellung nach New York oder Venedig. Viele haben trotzdem versucht, Urlaub zu machen, sind dann vielleicht im eigenen Land in die Berge gefahren oder haben das Camping neu entdeckt.

STANDARD: Wir wollen im Urlaub aber auch etwas erleben.

Trentmann: Ja. Ob das langfristig so weitergeht, hängt davon ab, was Städte und Gemeinden machen, um lokalen Tourismus, Attraktionen innerhalb der eigenen Nachbarschaft zu stärken. Die Exotik kann es auch in der eigenen Region geben. Denken Sie an die Wanderkinos um 1900. Da sind die Leute nicht ins Kino gefahren, sondern das Kino ist herumgewandert wie ein Zirkus, der kam dann in die Nachbarschaft.

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Einkaufssamstag vor Weihnachten im Jahr 2019.
Foto: Neumayr / picturedesk.com

STANDARD: In vielen größeren Städten ist aber die Innenstadt das Zentrum des Geschehens.

Trentmann: Aber es gibt ja überhaupt keinen Grund, warum alles immer im Stadtzentrum stattfinden muss. Vor der Pandemie sind wir gern auf Reisen gegangen, ins Museum, in die Konzerthalle im Zentrum. Man setzte sich entweder ins Auto oder in irgendein Verkehrsmittel oder ins Flugzeug und bewegte sich dorthin. Der alltägliche Konsum in den letzten fünf bis zehn Jahren hat sich in die genau umgekehrte Richtung verändert. Irrsinnig viel von dem, was wir im Alltag brauchen, was wir essen, was wir anziehen, die Bücher, die wir lesen, kommen zu uns, häufig online bestellt. Uns fällt es nur mittlerweile schwer, uns vorzustellen, dass Kultur, Urlaub, Unterhaltung lokalisiert werden kann. Wir sollten uns erinnern, dass vor den 1960er-Jahren die große Masse des Volkes nicht in die Sonne geflogen ist. Warum müssen bestimmte Dienstleistungen im Konsum, zu denen wir immer hinpilgern, so zentralisiert sein?

STANDARD: Weil wir in den Zentren große Kauf- und Bürohäuser und die Theater und Opernhäuser haben?

Trentmann: In den großen englischen Städten ist ein Großteil der Büroangestellten seit März nicht mehr im Büro. Einige werden zurückkehren, viele werden weiterhin zu Hause arbeiten. Das ist für die Stadtzentren eine Riesenherausforderung. Da sind ja auch die Cafés, Restaurants und Kinos, die von den Angestellten abhängig sind. Wenn viele davon nicht zurückkommen, müssen wir uns schon fragen, wofür die Stadtzentren da sind. Aber man kann schon erwägen, dass Städte, anstatt große zentrale Häuser und Institutionen mit viel Geld zu subventionieren, sich überlegen: Wir wollen mehr Unterhaltung in den Nachbarschaften und auch in der Provinz.

STANDARD: Freunde der Hochkultur geben viel Geld aus, um sich von Krethi und Plethi zu unterscheiden. Würden große Kulturtempel nicht mehr so subventioniert, hätten sie wohl einiges dagegen.

Trentmann: Ich bin auch ein großer Opernfan, aber ich weiß, wie jeder Platz in deutschen und österreichischen Häusern von Steuerzahlern subventioniert wird. Es gibt keinen Grund, warum es keine Debatte geben könnte, ob die Subventionen nicht vielleicht mehr in regionale und lokale Initiativen fließen sollten, die letzten Endes der Mehrheit der Steuerzahler zugutekommen. Ich will nicht sagen, dass ich die Wiener Philharmonie abschaffen will, aber ich würde schon betonen, dass wir uns daran gewöhnt haben, dass bestimmte Formen von Konsum und Kultur einfach subventioniert werden, weil es so ist.

STANDARD: Diese Idee sägt an unseren Grundfesten – auch in Österreich. Menschen aus aller Welt kommen auch wegen der Hochkultur hierher. In manche Städte vor Corona so fleißig, dass es Bewohnern zu viel geworden ist.

Wenn wir ständig für Kurzurlaube in der Welt umherjetten, hat das gesellschaftliche und ökologische Konsequenzen. Das wird auch von den meisten verstanden, sagt Konsumforscher Trentmann.
Foto: imago images/MediaPunch

Trentmann: Es wird sehr interessant werden für Länder wie Österreich oder auch Spanien, die extrem vom Tourismus abhängig sind. Was wollen wir als Europäer? Wollen wir immer mehr Kreuzfahrtschiffe, immer mehr Airbnb, dreinächtige Besuche in Barcelona und Florenz? Oder wollen wir vielleicht mit neuen Urlaubs- und Tourismuskonzepten arbeiten? Da muss es eine europaweite Diskussion geben.

STANDARD: Welche Rolle spielt dabei der Konsument? Er kann Kaufentscheidungen treffen, aber es reicht wohl nicht, einen Fairtrade-Cafe zu kaufen, um die Welt zu verändern.

Trentmann: Alleine schaffen das die Konsumenten nicht. Aber in der Vergangenheit gab es Verbraucherministerien, Verbraucherlobbies, die Einfluss nehmen konnten auf Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Grundidee ist, dass man als Konsument auch Bürger ist. Wie wir konsumieren ist nicht nur Ausdruck von individuellem Glück, sondern auch soziale und gesellschaftliche Pflicht gegenüber anderen. Wenn wir ständig für Kurzurlaube in der Welt umherjetten, hat das gesellschaftliche und ökologische Konsequenzen. Das wird auch von den meisten verstanden.

STANDARD: Da sind wir wohl wieder bei der Trägheit unserer Konsumgewohnheiten.

Trentmann: Die meisten Menschen sind besser als man oft meint, haben häufig ein schlechtes Gewissen – zum Beispiel wenn sie zuviel einkaufen und dann Lebensmittel im Müll landen. Das machen sie ja nicht, weil es ihnen Spaß macht. Es ist Teil ihrer Lebens- und Einkaufsgewohnheiten. Aber das heißt ja nicht, dass wir daran nichts ändern können oder sollten. Es ist ja nicht so, dass in den Urlaub fliegen irgendwo in der menschlichen DNA vergraben ist. Das ist eine historische Erfindung der Neuzeit. Politiker können sich schon ein bisschen etwas abschneiden aus der Geschichte und schauen wie in der Vergangenheit durch Intervention auch von staatlicher Seite viele Veränderungen herbeigeführt wurden.

STANDARD: Wenn Krisenzeiten immer Umbruchszeiten sind, kommt wohl jetzt so oder so eine neue Ära des Konsums?

Trentmann: Wenn wir davon ausgehen, dass der Weltuntergang noch ein bisschen auf sich warten lässt, kann ich Ihnen versichern als Historiker, dass es eine neue Ära geben wird. Die Frage ist, ob wir einfach davon überrumpelt werden, oder ob wir denken, dass wir mit Fantasie und Einflussnahme diese neue Ära aktiv mitgestalten können. (Regina Bruckner, 8.2.2021)