Die Inzidenzen sinken, die ersten Lockerungsdiskussionsorgien sind im Gang, aber wenn die Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die sich mit dem Thema auskennen, Recht behalten – und das haben sie seit Anfang der Corona-Pandemie immer –, dann steht uns ein harter Frühling bevor und ein Wettlauf zwischen Impfstoff und neuen Mutationen, den wir vielleicht verlieren. Das würde bedeuten, das Corona-Schlamassel geht noch bis nächstes Jahr mindestens so weiter.

Zur Lage möchte ich zwei Beobachtungen aus den vergangenen Tagen beisteuern, bei denen mir klargeworden ist, warum das Konzept der "Eigenverantwortung" nur heißt, die Arschkarte nach unten weiterzugeben. Und warum wir nur dann überhaupt eine Chance haben, noch dieses Jahr aus dem Permanent-Lockdown rauszukommen, wenn es endlich klare verbindliche Vorgaben zum Umgang mit dem Virus gibt, für die auch Menschen in leitenden Positionen Verantwortung übernehmen.

Muss ich die anderen zur Ordnung rufen?

Erstes Beispiel im Foyer eines Verwaltungsgebäudes. Es ist später Nachmittag, nicht mehr viel Publikumsverkehr. Pförtner, Hausmeister und Reinigungskräfte, insgesamt fünf Personen, stehen eng zusammen und unterhalten sich angeregt, ohne Maske. Ich überlege kurz, ob ich etwas sagen soll, entscheide mich aber dagegen: Ich habe gut reden, ich kann den ganzen Tag im Homeoffice verbringen und bei den wenigen Gelegenheiten, wenn ich mit anderen Leuten zusammentreffe, problemlos eine Maske tragen. Weiß ich, wie es ist, den ganzen Tag mit Maske zu arbeiten – und zwar körperlich: putzen, reparieren, organisieren?

Ich wette, solche Situationen gibt es ständig und überall, wo Menschen körperlich arbeiten. Die Lösung kann nicht sein, dass Leute wie ich sie dann individuell "zur Ordnung rufen", sondern die Ansagen müssen von oben kommen, von der Spitze der Unternehmen, von ihren direkten Vorgesetzten. Die Regeln müssen glasklar sein: ständig Maske tragen, zumindest in geschlossenen Räumen, und Abstand halten. Selbstverständlich müssen die Masken vom Arbeitgeber gestellt werden, und es muss Kompensationen dafür geben, dass die Arbeit dadurch belastender ist, zum Beispiel eine Stunde früher Feierabend, jeden Tag. Es ist kein individuelles Problem, sondern ein strukturelles. In dieser Situation war es offensichtlich, dass ein einzelner dieser Männer gar nicht wirklich die Möglichkeit gehabt hätte, sich gegen den Gruppenkonsens ("Wir sind doch hier unter uns, willst du der Spaßverderber sein?") zu stellen. Klare Vorgaben von Führungskräften, die auch konsequent umgesetzt und kontrolliert werden, und für die es Kompensationen gibt, sind nicht "autoritär", sie sind verantwortungsbewusst.

Antje Schrupp: "Weiß ich, wie es ist, den ganzen Tag mit Maske zu arbeiten – und zwar körperlich: putzen, reparieren, organisieren?"
Foto: AFP/YURI KADOBNOV

Wie umgehen mit den Verweigerern?

Zweites Beispiel am Morgen beim Bäcker. Als ich komme, ist eine Kundin drin, ohne Maske, sie kommt aber grade raus. Ich gehe rein und frage die Verkäuferin, warum sie Kundinnen ohne Maske bedient. Sie meint, das sei doch nicht ihre Sache und jeder müsse selbst entscheiden, ob er eine Maske trägt. Ich sage, nein, Geschäfte sind dafür verantwortlich, dass die Kundschaft bei ihnen Masken tragen. Sie wird laut, regt sich auf, sie hätte Corona auch schon gehabt, und sie hätte es satt, und es wäre halt eine Ausnahme gewesen. Wer ist hier schuld?

Nicht die Verkäuferin, finde ich, oder jedenfalls nicht nur. Klar, die andere Kundin, aber dass es Maskenverweigerer, Querschwurblerinnen, Ignorante gibt, das können wir nicht ändern. Die Frage ist, wie wir strukturell mit ihnen umgehen. Verantwortlich ist der Betreiber der Bäckerei, der seinem Verkaufspersonal offenbar keine klaren Anweisungen dazu gegeben hat, wie mit maskenloser Kundschaft umgegangen werden soll, oder der ihr im Gegenteil die Anweisung gegeben hat, es je nachdem so zu machen, wie es die betreffende Kundschaft nicht verärgert. Ich finde, mit ihrem Einwand, "Es ist doch nicht meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Leute Maske tragen", hatte sie völlig recht. Es ist nicht ihre Aufgabe. Es ist die Aufgabe ihres Chefs. Mein Problem in dem Zusammenhang war nun, dass ich mich schlecht bei ihrem Chef beschweren konnte, ohne sie anzuschwärzen. Eine wirklich verfahrene Situation.

Von sich weisen

Aber klar ist: Von "Eigenverantwortung" zu reden und davon, dass die Leute "vor Ort" am besten wüssten, was in einer Situation zu tun ist, ist reine Heuchelei. Es bedeutet nämlich nichts anderes, als dass man selbst die Verantwortung von sich weist und denen zuschiebt, die tatsächlich im Alltag nicht nur die größte Gefahr und die größte Last haben, sondern jetzt auch noch an allem schuld sind.

Mit dem vorhersehbaren Ergebnis, dass die notwendigen Maßnahmen regelmäßig nicht eingehalten werden, dass sich das Virus nicht eindämmen lässt, dass wir über Monate hinweg nicht aus dem Lockdown herauskommen. Und wenn es stimmt, dass die neuen Virusvarianten eine deutlich höhere Reproduktionsrate haben, dann wird uns dieses Versäumnis in den kommenden Monaten aber so was von auf die Füße fallen. (Antje Schrupp, 9.2.2021)