Die Spannungen zwischen Unabhängigkeitsbefürwortern und Pro-Frankreich-Vertretern in Neukaledonien haben einen neuen Höhepunkt erreicht. Wenige Monate nach einem Referendum über die Unabhängigkeit und mitten in einem erbitterten Konflikt über den Verkauf einer großen Nickelmine ist die Regierung des französischen Überseegebiets geplatzt. Dies schürt Ängste vor einem Rückfall in erbitterte ethnische Konflikte, die in den 1980er-Jahren für Gewalt und Instabilität gesorgt hatten.

Am vergangenen Dienstag traten die fünf für die Unabhängigkeit Neukaledoniens eintretenden Mitglieder des elfköpfigen Kabinetts zurück und sprengten damit die seit eineinhalb Jahren amtierende Mehrparteienregierung von Präsident Thierry Santa.

Kommende Woche soll am Mittwoch im Kongress in Nouméa über eine neue Regierung entschieden werden. Erstmals könnte ein Befürworter der Unabhängigkeit das Präsidentenamt erhalten.

Proteste wegen Nickelminenverkaufs

Der Streit um den milliardenschweren Verkauf der Nickel-Kobalt-Mine Goro von Vale NC, der regionalen Tochter des brasilianischen Bergbaukonzerns Vale, sorgt für zunehmend gewaltsame Proteste. Vale will wegen der politischen Instabilität und Konflikten mit den Kanak seine Anteile an dem Werk seit geraumer Zeit verkaufen. Der Konzern hält 95 Prozent an Goro, die restlichen fünf Prozent gehören der Société de Participation Minière du Sud Calédonien.

Das Nickelwerk Goro des brasilianischen Konzerns Vale im Süden Neukaledoniens.
Foto: AFP/Payet

Schon seit den 1960er-Jahren sind die Rohstoffvorkommen ein Kernthema der Unabhängigkeitsbewegung. Die Anführer der Kanak fordern, dass die Rohstoffproduktion von regionalen Eigentümern geführt wird. Sie verlangten, dass die Unternehmen Sofinor und Korea Zinc die Option zum Kauf der Vale-Anteile an Goro erhalten, was Vale ablehnte. Schon im November wurden Straßensperren um das Werk errichtet.

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Proteste gegen den Verkauf des Nickelwerks an den Konzern Trafigura vor dem französischen Überseeministerium in Paris im vergangenen Dezember.
Foto: AP/Mori

Gewaltsame Ausschreitungen

Bei den Blockaden wurden Sicherheitskräfte mit Steinen und Molotowcocktails beworfen. Auch das Nickelwerk wurde Ziel von Angriffen, Ausrüstungsgegenstände und Fahrzeuge wurden zerstört, Gebäude niedergebrannt.

Im September scheiterte bereits ein Versuch, Goro an New Century Resources zu verkaufen. Am 9. Dezember gab Vale bekannt, eine verbindliche Verkaufsoption mit Prony Resources unterzeichnet zu haben, das Geschäft solle bis Ende März 2021 durchgezogen werden. Hinter Prony steht der niederländische Rohstoffhändler Trafigura. Vale musste am 11. Dezember seine Tätigkeiten in Goro aus Sicherheitsgründen einstellen, vier Tage später meldete das Unternehmen, dass Feuer in den Betriebsstätten ausgebrochen seien.

Vale musste das Werk in Goro nach Angriffen der Sezessionisten vorerst schließen.
Foto: AFP/Payet

Drittes Referendum steht bevor

1998 wurde im Nouméa-Vertrag festgelegt, dass die Neukaledonier in drei Referenden über Eigenständigkeit oder Verbleib bei Frankreich abstimmen dürfen. Nach 56,7 Prozent 2018 stimmten im vergangenen Oktober mit 53,3 Prozent deutlich weniger Wahlberechtigte für die Beibehaltung des Status quo. Im April soll die Abhaltung des dritten und letzten Referendums im Jahr 2022 in die Wege geleitet werden – inmitten einer aufgeheizten Stimmung. Während sich die Pro-Frankreich-Fraktion auf zwei gewonnene Wahlgänge stützt, sieht die Seite der Kanak die Möglichkeit, doch noch die Abspaltung zu erreichen.

Nach dem Referendum im vergangenen Oktober gingen die FLNKS-Anhänger in Nouméa auf die Straße.
Foto: AFP/Rouby

Drei Fünftel des Kongresses müssen dem neuerlichen Referendum zustimmen. Die Parteien für die Unabhängigkeit verfügen über diese Mehrheit und wollen die Möglichkeit des dritten Referendums nutzen. Sie befürchten, andernfalls die im Nouméa-Vertrag den indigenen Wählern zugesicherten Vorteile auf Dauer wieder einzubüßen.

Die Spaltung läuft nicht nur quer durch die Bevölkerung, sondern ist auch regional sichtbar. Während die einheimischen Kanak den Norden der Hauptinsel Grand Terre und die übrigen Inseln dominieren, stellen die Europäer im reicheren Süden Grande Terres die Mehrheit.

Nach mehreren Tagen der Gewalt riefen die Loyalisten im Dezember zu einem friedlichen "Marsch für die Freiheit" in Nouméa auf.
Foto: AFP/Rouby

Santa besorgt

Santa, der zu der Loyalistenkoalition L'Avenir en confiance (Zukunft in Vertrauen, AEC) gehört, äußerte nach dem Sturz der Regierung seine Besorgnis über die Instabilität Neukaledoniens. AEC kritisierte den Regierungsbruch als unverantwortlich. Die Unabhängigkeitsbewegung betreibe seit Monaten eine Politik der verbrannten Erde und gefährde inmitten der Corona-Krise die Wirtschaft und damit die Jobs der Neukaledonier.

Thierry Santas Regierung wurde gestürzt.
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Im Nouméa-Vertrag ist auch die Grundlage für die Regierung geregelt. Diese ist eine auf dem Kollegialitätsprinzip basierende Mehrparteienregierung, die theoretisch für eine Legislaturperiode von fünf Jahren amtieren sollte. Tatsächlich war das nun gestürzte Kabinett Thierry Santas die 16. Regierung seit 1999.

Kongress bestimmt neue Regierung

Vakante Ministerämter müssen gemäß Nouméa-Vertrag aus der selben Fraktion nachbesetzt werden. Wird keine Neubesetzung vorgenommen, fällt die Regierung und der Kongress muss innerhalb von zwei Wochen elf neue Regierungsmitglieder auf Basis der Mehrheitsverhältnisse bestimmen. Die neue Regierung wiederum hat zwei Wochen Zeit haben, einen neuen Präsidenten zu wählen. Im Kongress halten sich Befürworter und Gegner der Unabhängigkeit die Waage und werden je fünf Ministerämter erhalten.

Zu den Loyalisten gehört neben der AEC-Koalition, die in Santas Regierung drei Minister stellte, die Partei Calédonie ensemble (Kaledonien gemeinsam, CE) mit bisher zwei Posten. Aufseiten der Sezessionisten steht die Plattform UC-FLNKS aus dem Front de libération nationale kanak et socialiste (Kanakische sozialistische Front der nationalen Befreiung, FLNKS) und der Union calédonienne (Kaledonische Union, UC), die gemeinsam vier Posten hatten und die Union nationale pour l'indépendance (Nationale Einheit für die Unabhängigkeit, UNI) mit einem Ministeramt. Dieses Patt gibt der kleinen Partei Eveil Océanien (Erwachen des Ozeans, EO), die Zügel in die Hand.

Premiere ist möglich

Der in der Unabhängigkeitsfrage neutrale EO verfügt zwar nur über drei Abgeordnete im Kongress und einen Ministerposten in der gestürzten Regierung, doch nun wird sie die Richtung vorgeben und entscheiden, welche Seite künftig den Präsidenten stellen wird. In der Vergangenheit stimmte EO themenabhängig abwechselnd mit beiden Blöcken. Neigt sich EO den Sezessionisten zu, bringt dies eine Premiere: Erstmals hätte Neukaledonien dann einen Präsidenten, der für die Unabhängigkeit der Insel eintritt.

Die Loyalisten appellierten am Dienstag eine Regierung des "allgemeinen Interesses" zu bilden, die auf einem "Pakt der geteilten Regierungsführung" basieren soll. Vordergründig richtet sich der Aufruf an alle im Kongress vertretenen Parteien, im Wesentlichen aber natürlich an die Loyalisten von Calédonie ensemble und ganz besonders an Eveil Océanien. Nicht die Anzahl der Sitze solle im Vordergrund stehen, sondern der "Dienst im Interesse der Kaledonier" und ihrer Gesundheit und Wirtschaft.

Gefährliche Instabilität

Die Instabilität Neukaledoniens ist nicht nur für Frankreich ein Problem. In der südpazifischen Region gibt es an mehreren Orten Unabhängigkeitsbestrebungen. So stimmten im Dezember 2019 die Einwohner Bougainvilles beinahe geschlossen für die Abspaltung von Papua-Neuguinea. In Westpapua hat sich der Kampf gegen die indonesische Besatzung in der jüngeren Vergangenheit intensiviert. Und auf den Salomonen lehnt sich die Provinz Malaita gegen die Zentralregierung auf. Hier hat sich der Konflikt daran entzündet, dass die Salomonen einen diplomatischen Seitenwechsel vom langjährigen Partner Taiwan zu Peking vollzogen haben, was Malaita nicht akzeptiert. Die Regionalmacht Australien beobachtet all diese Entwicklungen nervös – die eigenen Interessen kollidieren mit jenen der auf Expansion setzenden Chinesen.

Die Nickel-Kobalt-Mine in Goro. Neukaledonien verfügt über erhebliche Nickelvorkommen und ist der viertgrößte Produzent der Welt.
Foto: AFP/Payet

Viertgrößter Nickelproduzent

Neukaledonien ist nach Indonesien, den Philippinen und Russland der viertgrößte Nickelproduzent der Welt. Die jährlich produzierten 200.000 Tonnen Nickel sind neun Prozent der weltweit geförderten Menge. Die Nickelreserven Neukaledoniens dürften rund ein Viertel des weltweiten Lagerstätten ausmachen. Nickel ist vor allem in der Stahlproduktion und für Batterien von Fahrzeugen mit Elektroantrieb relevant. Insbesondere der weltgrößte Nickelverarbeiter China ist auf Importe aus Neukaledonien angewiesen – vor allem da Indonesien im Jahr 2020 Exportsperren für Nickel verhängte. (Michael Vosatka, 9.2.2021)