Die Corona-Krise bringt für die aufsuchende Sozialarbeit nun weitere Herausforderungen.

Foto: Christian Fischer

Der öffentliche Raum einer Stadt gehört allen. Manche Menschen sind aber stärker auf ihn angewiesen als andere. Es liegt auf der Hand, dass Obdachlose oder Menschen in prekären Wohnverhältnissen hier einen besonderen Bedarf haben. Wer nicht zu Hause sein kann, ist auf Plätze, Parks und öffentliche Infrastruktur unter Dach wie Bahnhöfe oder U-Bahn-Stationen angewiesen.

Ein wesentlicher Trend der vergangenen Jahrzehnte war aber, gerade diese ohnehin bereits gesellschaftlich marginalisierten Personen auch im Lebensraum Stadt an den Rand zu drängen. Nicht nur im übertragenen Sinn: Ausgeschlossene und problematisierte Personengruppen werden zunehmend in die Peripherie der Städte abgedrängt.

Das Phänomen hat auch die "aufsuchende soziale Arbeit" der Streetworkerinnen und Streetworker schwieriger gemacht. Ihre Aufgabe ist, auch diesen vulnerablen Gruppen sozialstaatliche Unterstützung zukommen zu lassen.

Dank Gentrifizierung und ausschließender städtischer Ordnungspolitik müssen sie ihrer auf diese Art "unsichtbar" gemachten Klientel folgen – das ist Teil des Jobs. Das funktioniert aber nicht immer. Die stetige Vertreibung und Fragmentierung etwa von Jugendszenen macht diese schwerer zugänglich. Manche der einstigen Klientinnen und Klienten bleiben dann unerreichbar.

Verstärkte Ausgrenzung

Gefragt nach den langfristigen Entwicklungen im Bereich Streetwork, zeichnen Marc Diebäcker und Gabriele Wild unter anderem dieses Bild einer verstärkten Ausgrenzungsbewegung. Beide sind am Department Soziales der FH Campus Wien in Lehre wie Forschung tätig.

Vor kurzem erschien der von ihnen herausgegebene Sammelband Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum. Darin geben Expertinnen und Experten aus Österreich, Deutschland und der Schweiz einen auf wissenschaftlicher Basis gegründeten Überblick über aktuelle Kontexte dieses Arbeitsfelds.

"Vor 20 Jahren hat man am zentral gelegenen Wiener Schwedenplatz verschiedene Jugendgruppen angetroffen. Solche Plätze sind heute noch stärker kommerzialisiert und von privaten Interessen geprägt", skizziert Wild. "Jugendgruppen werden dort heute noch schneller als auffällig wahrgenommen."

Der öffentliche Raum, der für viele dieser Menschen nicht nur ein Ort ist, um gesehen zu werden, sondern auch ein Rückzugsort, kann diese Funktion nicht mehr wie früher erfüllen. "Die Marginalisierung und Verdrängung dieser Personengruppen führt nie zu einer Verbesserung ihrer Lebenssituation. Es ist lediglich eine Bekämpfung der Symptome, aber nicht der Ursachen des Problems."

Veränderter Umkreis

Auch die Gentrifizierung trägt ihren Teil zur Verdrängung bei: Ein Park wirkt mit der Zeit fremd, wenn Besucher und Anrainer langsam andere werden, wenn sich Lokale und Geschäfte im Umkreis verändern.

Eine zweite grundlegende Veränderung, die die Streetworker beobachten, hat mit diesem Phänomen zu tun. "Konflikte zwischen den sozialen Milieus, die unter diesen Umständen aufeinandertreffen, nehmen zu. Neue Anrainer bringen eigene Vorstellungen mit, wie der öffentliche Raum genutzt werden soll. Für die Sozialarbeit bedeutet das vor allem, dass man zwischen diesen Gruppen vermitteln muss", umreißt Diebäcker.

Die zugezogene Mittelschicht wird so zur neuen Zielgruppe der Sozialarbeit. Begegnungen zu organisieren, Dialoge anzustoßen und Partizipation zu ermöglichen wurde für die Streetworker zum Alltag.

Stimme für die Schwächeren

Eine schwierige Frage dabei: Geht man offen und unparteiisch an die Sache heran, um die Chancen auf eine erfolgreiche Vermittlung zu erhöhen? Oder bleibt man bei parteilichen Unterstützungsangeboten aufseiten der Schwächeren? Beide Strategien sind in der Praxis üblich.

Diebäcker und Wild sowie auch die Autorenschaft des Buches plädieren aber für parteiliche Ansätze. Es gehe letztendlich darum, die Verteilung der Machtverhältnisse im Blick zu haben. "Streetwork steht dafür, Menschen zu unterstützen, die sonst nicht gehört werden", betont Wild. Die Machtvolleren in einer Gesellschaft haben jedenfalls ohnehin stärkeren Einfluss darauf, welche Ordnungs- und Sicherheitsvorstellungen von der Politik aufgegriffen werden.

Diesbezüglich erlebten die USA mit der Black-Lives-Matter-Bewegung und der Kritik an einem vorurteilsbehafteten Handeln der Polizei, die in "Defund the police"-Rufen von Demonstrierenden mündeten, gerade eine Neuorientierung, sagt Diebäcker. Nicht Polizeipräsenz im öffentlichen Raum solle finanziert werden, sondern eine bessere sozialstaatliche Versorgung.

Auch die Medien möchten die beiden Streetwork-Experten in die Pflicht nehmen. "Wenn etwa Gewaltdelikte im öffentlichen Raum einfach einem Ort oder Bezirk zugeordnet werden und mit ,dem Islam‘ oder einer Nationalität in Zusammenhang gebracht werden – selbst von wohlmeinenden Vertretern –, tut das der Sache keinen Dienst", betont Diebäcker.

Damit werden Stereotype und Verallgemeinerungen produziert und Diskriminierungen befördert, mit denen sich die Streetworker dann täglich auseinandersetzen müssen.

Streetwork in der Pandemie

Die Corona-Krise bringt für die aufsuchende Sozialarbeit nun weitere Herausforderungen. Ihre Zielgruppen, unter anderem Jugendliche, sind nun noch schwieriger erreichbar. "Die Möglichkeit, durch niederschwellige freizeitpädagogische Angebote mit jungen Menschen in Kontakt zu treten, ist kaum mehr gegeben", bedauert Diebäcker. "Speziell bei Kindern – die Angebote in der Jugendarbeit starten ab einem Alter von sechs Jahren – und Mädchen ist es wahnsinnig schwierig geworden, in Verbindung zu bleiben", betont Wild.

Auch in diesem Bereich trägt die Pandemie zur Zementierung eingefahrener Geschlechterrollen bei. Denn gerade bei männlichen Jugendlichen funktioniere es tendenziell noch besser, über Social Media zu kommunizieren – ein Bereich, das längst zum Betätigungsfeld der Streetworker geworden ist und nun eine neue Relevanz erfahren hat.

Wild: "Die Betreuung auf Social Media lief lange nebenher. Diese Betreuung hat sich nun extrem verstärkt. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass das kein barrierefreier Raum ist. Nicht alle sind online. Es ist weiterhin notwendig, physische Präsenz im öffentlichen Raum zu zeigen – auch wenn das derzeit schwieriger geworden ist." (Alois Pumhösel, 19.2.2021)