Eine Oper blickt in den Abgrund des Menschlichen.

Karlheinz Fessl

Der Wohnsitz der Atriden ist ein schwarzer Meiler im Wald, das Bad ist eine Schlachtstatt. Auf dem Gasherd köcheln hier menschliche Eingeweide, und monströse Hände baumeln Agamemnon und Klytämnestra blutverschmiert von den Armen: Regisseur und Ausstatter Nigel Lowery hat als gebürtiger Engländer sichtlich einigen Sinn für unheimliche Settings.

Auf beklemmende Schaurigkeit kann sich einstellen, wer ab Ostern am Klagenfurter Stadttheater die Uraufführungsinszenierung von Salvatore Sciarrinos Il canto s’attrista, perché? besuchen will. Dass sich dieser Opernabend aber nicht in Schauerromantik und Geisterbahngruselei erschöpft, dafür sorgt der italienische Mystikspezialist und stolze Autodidakt nicht nur mit seiner speziellen Ästhetik, sondern auch mit einem von ihm selbst frei nach Aischylos verfassten tiefsinnig-poetischen Text.

Letaler Empfang

Die Handlung des neuen Musiktheaters hält sich weitgehend an das 458 vor der Zeitenwende einem begeisterten Athener Publikum präsentierte Original: König Agamemnon kehrt nach zehn Jahren Belagerung und der Zerstörung Trojas siegreich, aber von finsteren Ahnungen bedrückt in das heimatliche Mykene zurück, als Kriegsbeute und Konkubine die Priamos-Tochter Kassandra an der Seite. Beide werden dort von Klytämnestra erschlagen.

Da sie sich längst ebenfalls wen angelacht hat, ist es etwas unfair von ihr, ihrem Ehemann seine Untreue vorzuwerfen. Schwer aber wiegt die Anschuldigung, dass er, um die Schiffe flottzukriegen, die gemeinsame Tochter Iphigenie hat schlachten lassen. Das wutentbrannte Muttertier in Klytämnestra wird hier sozusagen gleich nachgereicht.

Sciarrinos Aischylos-Oper hätte eigentlich schon in der Vorsaison herauskommen sollen. Im zweiten Anlauf hat es jetzt zumindest vor Medienvertretern geklappt. Anwesend waren neben Orchester und Ensemble Dirigent Tim Anderson, ansonsten aus Corona-Gründen jedoch weder der Komponist noch der Regisseur und Ausstatter.

Wenn das Haus öffnet

Aber das spielt keine Rolle mehr, wenn erst einmal die geplanten Folgeaufführungen über die Bühne gehen – irgendwann nach der Wiedereröffnung des Klagenfurter Hauses am 8. April. Dann, aber vielleicht auch bereits am 23. Februar in der vorgesehenen Ö1-Ausstrahlung einer Aufzeichnung der Generalprobe, geht es nur noch um dieses außergewöhnliche neue zeitgenössische Musiktheaterstück. Substanzvoll realisiert wurde auch die vokale Seite der Aufführung: beeindruckend Rinnat Moriah als Kassandra, Iris van Wijnen als Klytämnestra, Tobias Hechler als Wächter, Otto Katzameier als Agamemnon und schließlich Davide Gianregorio als Herold.

Salvatore Sciarrino überrascht unentwegt mit subtilen Klangideen. Sie verleihen dem kleinen Ensemble akustisch subtil jene existenzielle Eigenart, die im Zusammenspiel nur tragisch enden kann. Denn die ganze neue Oper (im Auftrag des Klagenfurter Stadttheaters und der Oper Wuppertal entstanden) ist natürlich nicht die Geschichte von Agamemnon und Klytämnestra. Sie ist eine beeindruckende Parabel über das notorische menschliche Scheitern. (Michael Cerha, 10.2.2021)