"Halo: Infinite" ist eines der prominentesten Beispiele für kurzfristige Verschiebungen.

Foto: Microsoft

Nach den kommerziellen Erfolgen der Gaming-Branche im Jahr 2020 – der Umsatz konnte gegenüber 2019 um knapp zehn Prozent gesteigert werden – scheint die Corona-Krise jetzt andere Wunden aufzureißen. Die Zahl der verschobenen Spiele steigt wöchentlich, die Firmen hadern mit erklärenden Aussagen. Es folgt eine Standortbestimmung über mögliche Ursachen und etwaige Auswirkungen. Denn Fans fragen sich: Wo bleiben die Games, auf die wir uns gefreut haben?

Verschiebungen

Die Verschiebung eines Spiels ist nichts Neues. Historisch auffällige Beispiele waren sicher Duke Nukem Forever, angekündigt 1997 und erschienen 2011, oder auch The Last Guardian, auf das man neun Jahre warten musste. Das aktuellste Beispiel ist Cyberpunk 2077, für das die Entwickler immerhin dreimal das bereits festgesetzte Veröffentlichungsdatum revidieren mussten.

Auch die von langer Hand geplanten Konsolenstarts von Playstation 5 und Xbox Series X/S im Vorjahr haben terminliche Probleme der Branche offenbart. Das angekündigte Halo: Infinite hätte wohl ebenso zum Erscheinen der neuen Xbox fertig sein sollen wie Deathloop im Falle der Playstation 5. Während für letzteres aktuell der 21. Mai als Veröffentlichungsdatum angegeben wird, hat das neue Halo noch keinen neuen Release-Termin.

Ubisoft

Speziell kurzfristige Verschiebungen verwirren dieser Tage. Returnal wird von März auf April geschoben, die beiden Ubisoft-Games Far Cry 6 und Riders Republic sind gänzlich aus Release-Listen verschwunden, während das Prince of Persia-Remake sich erst von Jänner auf März und schließlich auf unbestimmt verschoben hat.

Aber was ist der Grund dafür, und welche Mechanismen greifen aktuell, die offenbar so vielen Entwicklern Probleme bereiten? Handelt es sich um Covid-19, oder verändert sich die Branche gerade dahingehend, dass Updates und Service-Packs wichtiger als neue Releases werden?

Die Pandemie

Spiele, speziell die größeren Produktionen, sind mittlerweile millionenschwere Mammuts geworden. Orchestrale Tonaufnahmen, 4K-Auflösung, dynamische Kampfsysteme, komplexer werdende künstliche Intelligenz, spannende Geschichten und vieles mehr fordern die Entwicklerstudios dieser Welt. Auch wird zunehmend auf Outsourcing gesetzt, egal ob interne oder externe Studios. So arbeiten bei Ubisoft an einem Spiel oftmals drei Teams, verteilt über die ganze Welt. Diese komplexen Systeme können zusammenfallen, wenn das Setup sich von heute auf morgen verändert, weil jeder seine heiklen Daten von zu Hause aus erreichen muss und Kommunikationswege länger werden.

Das Grazer Studio Bongfish arbeitet unter anderem am "Microsoft Flight Simulator 2020" mit.
Foto: Microsoft

Auch bei Bongfish in Graz, wo man unter anderem am Flight Simulator 2020 und an World of Tanks mitwirkte, musste man sich neu arrangieren, wie Executive Producer Christian Stocker erzählt: "Je nach Projekt und Projektphase waren die Auswirkungen von Covid-19 sehr wohl spürbar. Game-Development verlangt oft, dass sich verschiedene Disziplinen miteinander austauschen, und auch wenn Tools wie Zoom vieles vereinfachen, kann man eine über Jahre oder Jahrzehnte entwickelte Gesprächskultur nicht einfach ablegen. Manchmal geht's nun mal am schnellsten, wenn man etwas aufs Whiteboard kritzelt."

Weiters kann man natürlich an den Erwartungen zerschellen. Exklusivtitel für neue Konsolen hatten historisch immer Probleme, die neue Hardware auszunutzen beziehungsweise sie überhaupt in den Griff zu bekommen. Da werden Titel wie Destruction Allstars vom angekündigten Vollpreis-Game schnell zu einem Playstation-Plus-Spiel, das im Abo kostenlos enthalten ist. Die installierte Hardware-Basis wächst auch nur sehr schleppend, können doch weder Microsoft noch Sony aufgrund des aktuellen Chip-Mangels ausreichend Konsolen liefern.

Zu hohe Erwartungen

Viele Spiele haben hingegen schlicht zu hohe Ansprüche an sich selbst und schüren bei den Fans Erwartungen, die nicht erfüllt werden können. Beispiele gibt es zur Genüge. Anthem, das aufgrund von fehlendem Erfolg demnächst eingestellt wird, Cyberpunk 2077, das ebenfalls viele geplante Features streichen musste, oder auch Ghost Recon: Breakpoint, das am Ende des Tages keine würdige Fortsetzung seines starken Vorgängers war. Vielleicht auch aufgrund des in der Branche sehr einmaligen Shitstorms, den Cyberpunk 2077 über sich ergehen lassen musste, trauen sich viele Publisher künftig vielleicht nicht mehr, halbfertige Spiele auf den Markt zu werfen, die eventuell nur mit einem Patch am ersten, dritten oder 345. Tag vom letzten Bug befreit werden.

Bei den Begründungen bleiben die Publisher weiterhin vage, aber ähnlich in ihrer Aussage. Auf Returnals Twitter-Account liest man, die Verschiebung habe den Grund, "dem Team zusätzlich Zeit zu geben, das Spiel weiter auf das Niveau zu bringen, das ihr und alle anderen Gamer erwarten". Ubisoft schreibt zu Prince of Persia von "zusätzlicher Zeit, die man in das Spiel investieren will", und Warner Bros. Games begründet die Verschiebung des Harry-Potter-Spiels Hogwarts Legacy damit, dass ihm die Zeit gegeben werden solle, die es braucht. Das Erscheinen von Diablo 4 und Overwatch 2 im Jahr 2022 wurde von Blizzard überhaupt nur via Investorenkonferenz kommuniziert. Fairerweise muss man sagen, beide Spiele wurden nie für 2021 versprochen.

Stocker, der seit 13 Jahren in der Branche arbeitet, kennt die Situation, Erscheinungstermine nicht einhalten zu können. "Oft ist das Verschieben von einigen Wochen ja nur ein nochmaliges Verschieben. Initial war etwa Oktober 2020 geplant, danach März und dann eben April. Gerade zu Zeiten von Covid-19 lässt sich nicht alles zu 100 Prozent genau planen, und ein paar Unbekannte bleiben. Aktuell werden das möglicherweise auch plötzlich auftretende Probleme mit der neuen Konsolengeneration sein. Da man gleichzeitig auf allen Plattformen releasen möchte, muss man dann natürlich den Release aller Versionen verschieben."

PlayStation

Keine Ausreden

Release-Daten werden in der Milliardenbranche natürlich nicht zufällig gesetzt. In der Szene redet man von "blauen Meeren" und "roten Meeren". In den blauen Meeren erscheinen weniger Spiele respektive keine direkten Konkurrenten zum eigenen Produkt. Die roten Meere, die Vorweihnachtszeit ist da sicher ein gutes Beispiel, sind Platzhirschen wie GTA oder Call of Duty vorbehalten. Für Underdogs gibt es hier weniger Budget vom potenziellen Käufer und weniger Berichterstattung. Aufgrund der mittlerweile so hohen Dichte an Spielen zu jedem Zeitpunkt im Jahr zitiert "Wired" den Director of Publishing bei den Larian Studios: "Es gibt keine gute Zeit mehr, ein Spiel zu veröffentlichen. Es gibt nur noch weniger beschissene Zeiten, ein Spiel zu veröffentlichen."

Nur wenige Spiele sind von solchen Regeln nicht betroffen. Mario-Games etwa, die ihre eingeschworene Fanbase besitzen und quasi konkurrenzlos am Markt sind.

Da es auch gerade Jahresberichte und Quartalszahlen hagelt: Viele Publisher orientieren sich bei der Veröffentlichung ihrer wichtigen Spiele am Finanzjahr, das nicht immer mit dem Kalenderjahr übereinstimmt. Verschiebungen großer Titel, wie etwa in diesem Jahr Far Cry 6, reißen in ein Quartalsergebnis ein Loch, das sie erst in einem späteren wiedergutmachen. Nachdem Firmen wie Microsoft und vielleicht auch Amazon ständig auf der Suche nach neuen Studios sind, will man als unabhängiger Publisher wohl auch nicht die Deckung im falschen Moment fallen lassen und dann für ein Butterbrot vom nächstbesten Tech-Konzern gekauft werden.

Alternativtheorie

Aber schmerzt so eine Verschiebung heute wirklich noch? Wie viele wirklich wichtige Titel gibt es noch, die die Massen bewegen? Ist das Konzept des Vollpreistitels nicht ohnehin überholt?

1,2 Milliarden Dollar, von insgesamt 1,95 Milliarden Dollar, hat Activision Blizzard im vergangenen Jahr mit Mikrotransaktionen verdient, also kleinen Beträgen, die die Spieler in bestehenden Games ausgeben, um beispielsweise schneller voranzukommen oder besonders cool auszusehen. So kann man in dem Kartenspiel Hearthstone ein neues Heldenbild um 16,99 Euro kaufen, mit dem man sich im Spiel präsentiert. Auch das neue Diablo Immortal, ein Game für mobile Geräte, wird initial nichts kosten.

"Diablo Immortal" soll die Zeit bis zu "Diablo 4" verkürzen.
Foto: Blizzard

Auch bei Electronic Arts hat man die Milliardengrenze mit Einnahmen durch Mikrotransaktionen 2020 überschritten. Im Februar wurde zudem der Free-2-Play-Riese Glu Mobile für 1,7 Milliarden Euro gekauft. Eine klare Positionierung für die Zukunft, wie man bei EA bestätigt. Firmen wie Riot (League of Legends, Valorant) basieren auf der Idee, ihre Free-2-Play-Games auf diese Weise zu monetarisieren. Egal ob die angesprochenen Titel oder eines der beliebtesten Spiele der Welt – Fortnite –, sie alle funktionieren mit diesem System unglaublich gut. Fortnite ist für das Free-2-Play-Modell offenbar schon zu erfolgreich und hat deshalb zuletzt sogar ein Abo-Modell eingeführt, in dem man monatlich für neue Gegenstände und Charaktere bezahlen kann.

Es gibt mehrere Gründe, warum das Konzept von Gratisspielen auch abseits von Casual Games immer besser funktioniert. Abgesehen von der niedrigen Einstiegshürde durch null Kosten, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und großer Verunsicherung kein zu unterschätzender Faktor, prahlen auch zahlreiche Influencer und Streamer mit neuen, gekauften Gegenständen bei ihrer jungen Zielgruppe. In den letzten Jahren ist auch der Faktor E-Sport stark gewachsen, bei dem Publisher wie Riot oder Ubisoft die Fans dazu aufrufen, In-Game-Items zu kaufen, um ihren Verein zu unterstützen oder das Preisgeld eines Turniers zu erhöhen. Niemand wird gezwungen, aber die Fans reagieren meist positiv auf diese Angebote.

Zahlreiche Waffen und Kostüme locken in den Spielen zum Kauf.
Foto: Epic Games

Ausblick

Spieleverschiebungen sind grundsätzlich etwas Gutes. Offenbar waren die Spiele noch nicht fertig, und es wird mehr Zeit und Geld investiert, um das Produkt besser zu machen. Warum dann Entwicklungen trotzdem wie Anthem, Marvel's Avengers oder Cyberpunk 2077 enden können, muss an anderer Stelle analysiert werden.

Ein Far Cry 6 oder Hogwarts Legacy sind komplexe Spiele, die wohl auch aufgrund der Pandemie ihren ursprünglichen Zeitplänen hinterherhinken. Nachdem uns Covid-19 noch einige Zeit begleiten wird, werden es kommende Spiele weiterhin schwer haben, ihren strengen Zeitplan einzuhalten. Aufgrund von übermenschlich vielen Überstunden will man wohl aktuell auch keine Negativschlagzeilen. Dazu kommt, dass es aktuell keine System-Seller für Playstation 5 oder Xbox Series X/S braucht – es gibt aufgrund von Lieferengpässen wohl auch die nächsten Monate keine neuen Konsolen zu kaufen.

Die Gefahr, dass klassische Releases von Games-as-a-Service abgelöst werden, ist zumindest kurzfristig kein Thema, sagt auch Stocker. "Im Endeffekt wird es wohl immer beides geben: Spiele, die ich über Jahre hinweg spielen kann, ohne ein anderes Spiel zu brauchen, und dann Singleplayer-Games, die ich einmal durchspiele und mich dann etwas Neuem widme. Eigentlich der Filmbranche nicht unähnlich: Manche Leute wollen nur die neuesten Filme sehen, und andere schauen sich zum zehnten Mal alle Staffeln von Friends an."

Diesen Status quo zu erhalten liegt auch an den Spielern. Werden klassische Spiele zunehmend irrelevanter für den Gesamtumsatz klassischer Third-Party-Entwickler, weil sich Spieler zunehmend dazu entschließen, dass Kartenpakete in Hearthstone und Fifa mehrere hundert Euro im Jahr wert sind, dann wird sich die Industrie in diese Richtung entwickeln – besser gesagt, noch mehr entwickeln. Ob dann ein Prince of Persia-Remake oder Dying Light 2 im ursprünglich geplanten Zeitfenster erscheint, interessiert dann wohl nur noch eine kleine Spielerzahl. (Alexander Amon, 11.2.2021)