Zwischen März und Dezember 2020 sind laut Mare Liberum 9.798 Menschen in der Ägäis gewaltsam in die Türkei zurückgedrängt worden.

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Berlin – Die Gewalt gegen Flüchtende an der griechischen EU-Außengrenze hat nach Angaben der Organisation Mare Liberum im vergangenen Jahr eine neue Dimension erreicht. In einem am Donnerstag veröffentlichten Bericht dokumentierte die deutsche Menschenrechtsorganisation 321 Vorfälle, bei denen zwischen März und Dezember 9.798 Menschen auf der Flucht gewaltsam in die Türkei zurückgedrängt worden seien.

Küstenwache und Frontex als Hauptakteure

An den "systematischen und illegalen Rückführungsaktionen" seien neben der "griechischen Küstenwache als Hauptakteurin" auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex und Schiffe unter Nato-Kommando beteiligt gewesen, berichtete Mare Liberum unter Berufung auch auf Aussagen von Überlebenden. Die Menschen seien so "ihres Rechts auf Asyl beraubt" worden. In den meisten Fällen wurden die Schlauchboote zerstört und die Insassen "gezielt körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt". In einigen Fällen seien die Menschen zurückgedrängt worden, nachdem sie bereits griechischen Boden erreicht hätten.

Die sogenannten Pushbacks seien "keine Einzel- oder Extremfälle europäischer Abschottung, sondern vielmehr der gegenwärtige und alltägliche 'Modus Operandi' an der EU-Außengrenze", erklärte Co-Autor Paul Hanewinkel. Sie würden nicht nur vornehmlich von griechischen Behörden organisiert. Vielmehr stehe dahinter "eine gemeinsame europäische Strategie, die ebenso gängig wie unmenschlich" sei. Der Bericht dokumentiert auch Fälle, in denen laut Mare Liberum Schiffe der Bundespolizei und Bundeswehr an Pushbacks beteiligt waren oder nicht eingegriffen hatten.

Griechenland: "Wir machen keine Pushbacks"

Indes will der griechische Vizeminister für Europa-Angelegenheiten, Miltiadis Varvitsiotis, diese Vorwürfe nicht auf sich sitzen lassen. "Wir machen keine Pushbacks. Wir blockieren nur die Grenze für Boote, die in die EU eindringen wollen", sagt Varvitsiotis bei einem Treffen mit Europaministerin Karoline Edtstadler am Donnerstag in Wien. Gleichzeitig unterstrich er, dass "die Rettung von Menschenleben als erstes kommt, der Schutz der Grenzen als zweites".

Varvitsiotis, der stellvertretender Minister im griechischen Außenministerium ist, wies darauf hin, dass die griechische Küstenwache "nicht allein, sondern gemeinsam mit Frontex die Grenzschutzeinsätze im Mittelmeer durchführe. "Unsere Küstenwache folgt den Einsatzregeln von Frontex." Der ehemalige griechische Marineminister erinnerte zugleich an die bedeutende Seefahrttradition seines Landes und sagte: "Menschenleben im Meer zu retten, gehört zu unserer Tradition."

Mare Liberum fordert unabhängige Kontrollen

Das dürfte Mare Liberum anders sehen: In ihrem Bericht prangert die Organisation an, dass die Ägäis zu einem "rechtsfreien Raum für Menschen auf der Flucht geworden ist, in dem de facto Menschenrechte aus politischem Kalkül ausgesetzt wurden". Die Beweislast für diese systematischen Rechtsbrüche sei "erdrückend und bekannt". Rechtliche oder politische Konsequenzen blieben dennoch für die Verantwortlichen aus. Als Konsequenz forderte der Verein, "unabhängige Kontrollinstanzen", eine Untersuchung der bisherigen Fälle sowie die "Abschaffung von Frontex". Alle beteiligten Behörden "auf nationaler wie internationaler Ebene" müssten zur Rechenschaft gezogen werden. (APA, red, 11.2.2021)