Bill Kaulitz von Tokio Hotel verfasst als 31-Jähriger seine Memoiren – in der Sprache eines 13-Jährigen. Trotzdem süß.
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Stars haben es nicht leicht. Sein Frank-Lloyd-Wright-Traumhaus in den Bergen von Hollywood ist superschön, das Kaminfeuer flackert, der Champagner mundet, aber: Die Corona-Krise bereitet Bill Kaulitz Schmerzen im Sitzfleisch – was er selbst ungleich drastischer formuliert. Die Lateinamerika-Tournee seiner Band Tokio Hotel ist abgesagt, viel Kohle futsch! Was tun? Dann halt ein Buch schreiben. Eine Autobiografie, eine richtig rockstarmäßig hingerotzte Autobiografie. Wie geil ist das denn?

Überraschenderweise: ziemlich. Auf den knapp 400 Seiten seines außenrum ganz in Selbstmordschwarz eingefärbten Schmökers Career Suicide. Meine ersten dreißig Jahre (Mitarbeit: Dunja M. Pechner) versteht es Kaulitz, gewitzt, farbig und unterhaltsam zu erzählen.

Was an den Erinnerungen des 31-Jährigen nervt, ist die Sprache eines 13-Jährigen. Die Musikwelt empfängt ihn in seiner Erinnerung wie ein williges Genital, als 2004 erste interessierte Produzenten im klammen, grauen Heimatort in Sachsen-Anhalt auftauchen.

"Halb durchgefickt"

Als Tokio Hotel 2008 Katy Perry, Miley Cyrus und Taylor Swift den MTV Video Music Award wegschnappen und danach das Angebot für eine eigene MTV-Show in den USA ablehnen, haben sie blöderweise ihr "Momentum halb durchgefickt liegen gelassen". Will da jemand demonstrativ seine Rockstar- Credibility unter Beweis stellen und ein paar fette Schlagzeilen liefern? Mission erfüllt.

Aber neben vielen unterleibsfixierten Sprachbildern wird die Leserschaft auf Kaulitz’ Werdegang auch mit jugendfreien Formulierungen unterhalten. Kaum sind sie dem "Kinder-Knast" Schule entronnen, erwartet Bill, Tom, Gustav und Georg in Vögelsen, dem "Kaff der guten Hoffnung", das "Kinderstar-Bootcamp" von Musikproduzent Peter Hoffmann. Dort werden mit leuchtenden Kinderaugen Knebelverträge unterschrieben: "Sklaverei im 21. Jahrhundert"! Aber dann verkauft sich 2005 gleich die erste Single Durch den Monsun wie geschnittenes Brot, und Tokio Hotel hebt raketengleich ab, die Schinderei hat sich gelohnt.

Oder doch nicht? Wie ein Rohrspatz schimpft der Star immer wieder über die geringe Beteiligung am finanziellen Erfolg, sieht er sich doch als "Goldkehlchen und Cashcow", als "Triebwerk für die Gelddruckmaschine Tokio Hotel".

Von "Kill Bill!" ...

Abgesehen von dieser Larmoyanz gerät seine Schilderung der Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Band, Produzenten, Labels und der Boulevardpresse insgesamt recht differenziert.

Der Druck ist zweifelsohne enorm, den der aufgedrehte Junge mit dem explodierenden Kopfschmuck einer Manga-Figur und dem Faible für dramatisches Augen-Make-up über Jahre aushalten muss. Vor dem Hintergrund aggressiver Anfeindungen ("Kill Bill!") und der Fan-Hysterie empfindet der Teenager die Einsamkeit in Hotelzimmern und das Fehlen echter Liebe als immer schmerzvoller.

Ende 2010 flieht Kaulitz vor all dem nach Los Angeles. Dort will er sich vom "Fame" entgiften und verheddert sich doch in einer "toxischen Beziehung". Eine Nummer mit einem online gebuchten "Hooker" (einer Fachkraft für sexuelle Dienstleistungen) in einem Motelzimmer soll von seelischen Verletzungen ablenken. Klappt aber nicht. Und doch: Kalifornien tut ihm gut.

Früher hat er immer Verantwortung für andere übernommen: für seine herzkranke Mutter, seine Band, die Tour. Unter der Sonne Kaliforniens versucht er nun, Verantwortung für sich zu übernehmen.

Neben der Musik wird die Mode immer wichtiger. Vom kindlichen Bühnenkobold wandelt sich Kaulitz zu einem Mischwesen aus Fantasyfigur und Mensch, aus Mann und Frau. Mit der Eleganz der späten Lauren Bacall läuft er in Europa über die Catwalks der Modemessen, wird von Karl Lagerfeld fotografiert.

... zum Konzern Bill

Mit der Souveränität einer abgedankten, ewig jungen Majestät beehrt der Blondierte Fashion- und Casting-Shows mit seiner Anwesenheit, modeaffin wie Wolfgang Joop und genderfluid wie Conchita.

Trotz sinkender Plattenverkäufe und Popularität ist eine Sache für Kaulitz in Stein gemeißelt: "Ich bin eine Institution. Meine eigene Marke. Ein Konzern."

Aufmerksamkeit ist ihm als Schwager von Modeldomina Heidi Klum sicher; und Mode designt er natürlich auch. Im Gegensatz zum überdrehten, überlangen Vorwort von Popliterat und Plappagei Benjamin von Stuckrad-Barre gerät das Finale des Buchs still, nachdenklich und telenovelamäßig rührend. Ist es Bills Schicksal, für immer allein zu sein? Ist das der Preis für seinen überirdischen Bühnen-Fame? Bleiben Sie dran. In "Career Nulllinie – Meine zweiten dreißig Jahre" wird man es möglicherweise erfahren. (Stefan Ender, 12.2.2021)