Das Rezept gegen eine weitere Phase zahlreicher Corona-Infektionen erscheint klar: zusperren.

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New York / Wien – Auf den ersten Blick ist es ein Widerspruch. Während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem aktuellen Lagebericht am Donnerstag weltweit einen Rückgang der Corona-Fälle meldete – und zwar schon zum vierten Mal in Folge –, warnen Expertinnen und Experten in Österreich und woanders vor einer sich abzeichnenden heftigen dritten Welle an Infektionen. Was ist die Grundlage ihrer Besorgnis?

Diese liegt vor allem in der Verbreitung unterschiedlicher Mutationen des Coronavirus, die allem Anschein nach infektiöser als der ursprüngliche Virus-Wildtyp sind. Wie viel ansteckender, weiß man noch nicht genau, doch Wissenschafterinnen und Wissenschafter wie Melanie Brinkmann Helmholtz vom Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig warnen vor einem massiven Anstieg der Fallzahlen.

Merkel: "Sehr reale Gefahr"

Sie finden zum Beispiel bei der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel Gehör, die am Donnerstag im deutschen Bundestag von den Mutationen als "sehr realer Gefahr" sprach. Die Virusmutanten würden für "eine ganz neue Pandemie sorgen, draufgesattelt auf die bisherige", sagte Brinkmann in einem "Spiegel"-Interview diese Woche. Das "Larifari des 'Hier ein bisschen Homeoffice, dort ein improvisiertes Hygienekonzept'" müsse aufhören. Die Mutanten würden sich rascher verbreiten, als man mit Immunisierungen nachkomme.

Der österreichische Komplexitätsforscher Stefan Thurner vom Complexity Science Hub teilt diese Kritik: "Offensichtlich haben wir im letzten Jahr nichts dazugelernt", sagt er. Thurner bemängelt schon seit Monaten, dass Österreich bei der Umsetzung oder Verschärfung von Maßnahmen konstant viel zu träge reagiere. Erste Warnsignale müssten erkannt werden, um zügig reagieren zu können.

Österreich reagiert zu langsam

In etlichen asiatischen Ländern sowie im pazifischen Raum geschehe das inzwischen binnen 24 Stunden, die Lockdown-Maßnahmen würden innerhalb kürzester Zeit verschärft, sagt Thurner. In Österreich bestehe hier nach wie vor Aufholbedarf. Tatsächlich dauerte es viele Tage, bis man sich in Tirol zu Absperrmaßnahmen gegen die dort wie nirgendwo anders in Europa grassierende Südafrika-Mutation B.1.351 des Coronavirus entschloss.

Mit den diese Woche erfolgten Lockdown-Lockerungen gehe man ein großes Risiko ein, denn wie verbreitet die ansteckenderen Varianten wirklich sind, sei derzeit unklar, sagt wiederum Michael Wagner, Mikrobiologe an der Uni Wien. Es sei "sehr wahrscheinlich, dass die Zahlen wieder ansteigen", möglicherweise sogar schneller als bisher vermutet. Die Frage sei, ob die zusätzlich getroffenen Maßnahmen – FFP2-Masken-Pflicht, Testoffensive und Grenzkontrollen – ausreichen werden, "um diese Beschleunigung zu kompensieren".

Aus epidemiologischer Sicht wäre es besser gewesen, vor den Öffnungen erst eine Sieben-Tage-Inzidenz von 50 zu erreichen, sagt Wagner. Die wirtschaftlichen und psychologischen Gründe für die nun erfolgten Lockerungen seien aber auch nachvollziehbar. Komplexitätsforscher Thurner sieht das ähnlich, jedoch: Man müsse sich dessen bewusst sein, "dass wir uns in einer kritischen Situation befinden".

Popper: Kurzfristig keine dritte Welle

Diesem Befund stimmt der Simulationsforscher Niki Popper nur teilweise zu. Befürchtungen, dass es in Österreich kurzfristig zu extremen Fallsteigerungen kommen wird, hat er nicht. Berechnungsmodelle, die von einer noch unsichtbaren, später dann explosiven Welle von Infektionen ausgehen, seien "mathematische Fortschreibungen" und daher "verkürzt".

Länder wie Großbritannien oder Irland, die zuletzt von massiven Infektionswellen heimgesucht wurden, hätten "zu dem Zeitpunkt gelockert, als sich die neue Varianten verbreiteten". In Österreich hingegen sei gelungen, "Spontanausbreitungen" der Mutanten zu verlangsamen. Sehr wohl müsse man genau darauf achten, die Kontrolle aufrecht zu erhalten.

Hoffnung auf den Frühling

Für die kommenden zwei Wochen prognostiziert Popper einen "langsamen Anstieg" bei den Infektionszahlen. Auf diesen werde man "rechtzeitig und richtig reagieren müssen, durch Tests und Isolationsmaßnahmen bei positiven Tests". Auf die von der WHO berichtete Fallzahlverringerung nämlich könne man auch nicht setzen: "Da spielen so viele Faktoren mit. Der nahende Frühling ist aber epidemiologisch eine erfreuliche Aussicht." (Irene Brickner, Julia Palmai, 12.2.2021)