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Womöglich strenggenommen gar nicht mehr nötig: Sputnik V.

Foto: Reuters / Shamil Shumatov

Der Corona-Operationsstab in Moskau meldete am Freitag 15.000 neue Ansteckungsfälle und 507 Tote. Die Gesamtzahl der Infizierten seit Beginn der Pandemie liegt in Russland damit offiziell bei gut vier Millionen, die der Opfer bei 79.000. Pro Kopf steht Russland damit besser da als Österreich.

Wenn die Zahlen stimmen. Doch vermutlich trügen sie, denn in Russland gibt es gleich drei staatlich geführte Statistiken – und alle drei operieren mit unterschiedlichen Daten. Die Angaben des Corona-Operationsstabs auf der Seite Stop-Coronavirus sind für die Öffentlichkeit bestimmt und weisen gleichzeitig die geringsten Werte aus.

Die Regierung nutzt für ihre Arbeit die Zahlen des "Informationszentrums für das Monitoring der Corona-Lage" (IZK). Auch das IZK stellt seine Zahlen wie der Operationsstab täglich auf Basis der aus den Regionen zugehenden Meldungen zusammen und kann daher gut Trends festmachen.

Am genauesten – wenn auch mit deutlicher Zeitverzögerung – sind die Zahlen der Statistikbehörde Rosstat. Diese berufen sich auf die Totenscheine aus den Standesämtern – und geben ein erschreckendes Bild wieder. Zwar hat Rosstat mit Beginn der Pandemie aufgehört, die Todesursachen anzugeben, doch allein die Übersterblichkeit spricht Bände.

Übersterblichkeit: 358.000

Anno 2020 sind 358.000 Russen mehr gestorben als im Durchschnitt der letzten fünf Jahre. Der natürliche Bevölkerungsrückgang verdoppelte sich damit 2020 im Vergleich zum Jahr davor auf 688.700 Personen und stellt das demografisch schlechteste Ergebnis seit 15 Jahren dar.

Für besonders viele als tödlich erwiesen sich die Herbst- und Wintermonate, als Russland von der zweiten Covid-Welle erfasst wurde, im Gegensatz zu den westeuropäischen Ländern (und dem eigenen Handeln im Frühjahr) aber zugunsten der Wirtschaft auf einen Lockdown verzichtete: War die Übersterblichkeit im September mit unter 8.000 noch im Rahmen, so stiegen die monatlichen Werte im Oktober auf 47.777, im November auf 80.461 und im Dezember gar auf 96.012. Der Jänner dürfte nach noch unbestätigten Angaben nicht besser ausfallen als der Dezember.

Nicht alle Todesfälle sind mit Corona zu erklären. Allerdings hat die für Soziales zuständige Vizepremierministerin Tatjana Golikowa schon eingeräumt, dass 81 Prozent der Übersterblichkeit 2020 mit Covid zu tun habe.

Sechsmal mehr als bekannt

Das bedeutet, dass in Russland im vergangenen Jahr 290.000 Menschen an den Folgen des Virus gestorben sind. Das ist mehr als das Sechsfache der Zahlen, die in der Öffentlichkeit genannt wurden (zum Jahresende waren es 57.000). Das würde Russland auf den zweiten Platz in der Opferstatistik führen – hinter den wesentlich bevölkerungsreicheren USA, wobei die Dunkelziffer in Indien und Mexiko nicht bekannt ist.

Einen Vorteil hat die Sache allerdings womöglich für die Russen: Ausgehend von der durchschnittlichen Sterbequote, die mehreren internationalen Studien zufolge bei 0,66 Prozent liegt, hat sich inzwischen rund die Hälfte der Russen einmal mit dem Virus infiziert.

Damit nähert sich das Land der Marke, die von vielen Seuchenexperten zunächst als Schwellenwert für die so genannte Herdenimmunität genannt wurde. Spezialisten gehen nämlich davon aus, dass wenn 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung – sei es durch Impfung oder die Bildung von Antikörpern nach überstandener Erkrankung – immun gegen das Virus sind, die Ansteckungszahlen von allein sinken.

Schleppende Impfkampagne

Obwohl Russland als weltweit erstes Land sein Covid-Vakzin Sputnik V registrierte, haben die Impfungen effizient gerade erst begonnen. Auch hier gibt es augenscheinlich Zahlenspielereien, die Angaben zu den Geimpften schwanken zwischen einer und zwei Millionen. Doch in jedem Fall steigt die Zahl der Immunisierten nach Ausrufung der Massenimpfung schnell an.

Die aktuellen in der Öffentlichkeit genannten Ansteckungszahlen sind – trotz ihrer offensichtlich massiven Ungereimtheiten – ein Indiz dafür. Denn den Trend geben sie wieder und zeigen damit einen deutlichen Rückgang gegenüber den Höchstständen Anfang Dezember. Derzeit ist Russland bei den Ansteckungsraten wieder auf dem Niveau vom Oktober.

Einziger Wermutstropfen: Bei einer Mutation des Sars-Virus wie beispielsweise dem britischen Stamm, der deutlich ansteckender ist als die Ursprungsvariante, kann Russland auch noch von einer dritten Welle der Pandemie getroffen werden. In dem Fall müssten für die Bildung der Herdenimmunität nämlich noch wesentlich mehr Menschen erkranken oder sich impfen lassen. Die Schätzungen hierzu belaufen sich auf bis zu 90 Prozent. Allerdings ist der britische Stamm der Virusmutation in Russland bisher erst vereinzelt aufgetreten. (André Ballin aus Moskau, 12.2.2021)