"Spitzensportler werden nicht besser operiert als Otto Normalverbraucher", sagt Christian Fink.

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Wer ein Skirennen mit Sturz und schwerer Knieverletzung beendet, landet nach einem Helikopterflug nicht selten auf dem Operationstisch von Christian Fink.

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Die Zahl schwerer Knieverletzungen im Skirennsport hat dramatisch zugenommen. Nicht nur der ÖSV verzeichnete vor der WM viele Ausfälle. Im aktuellen Team war jede(r) Zweite schon von Kreuzbandrissen et cetera betroffen. Die meisten wurden – wie auch Fußballstars Leroy Sane oder Giorgio Chiellini – von Christian Fink operiert.

STANDARD: Ist der Skisport noch zu retten?

Fink: Ja, das glaub ich schon. Der Skisport hat so lange überlebt, er ist tief in unserer Kultur verwurzelt, ich mache mich mir da wenige Sorgen. Skifahren ist so sicher wie noch nie. In der Relation gibt es viel weniger Verletzungen als in den Siebzigern. Es fahren heutzutage einfach viel mehr Menschen Ski.

STANDARD: Für den Skirennsport gilt das aber nicht. Dort ist, um die Brücke zu schlagen, die Zahl schwerer Knieverletzungen deutlich gestiegen.

Fink: Das ist schon richtig. Es sind im Rennsport auch vor zwanzig Jahren schwere Unfälle passiert, teils sogar mit tödlichem Ausgang, das gab’s zuletzt Gott sei Dank nicht. Doch die Zahl der Verletzungen ist auf einem bedenklichen Niveau. Manchmal wird das gar nicht richtig wahrgenommen, weil man sich daran gewöhnt hat, abgebrüht ist.

STANDARD: Was schätzen Sie, wie viele der 13 Männer und elf Frauen im ÖSV-WM-Team schwere Knieverletzungen hinter sich haben?

Fink: Zwei Drittel?

STANDARD: Nein, nur die Hälfte.

Fink: Das ist leider auch beachtlich. Dazu kommt, dass etliche schon mehrere Kreuzbandrisse erlitten haben, allein Stephanie Brunner hat es dreimal erwischt. Es wird an vielen Schrauben gedreht, aber die große Reduktion der Verletzungen ist leider nicht gelungen. Sie sind Teil des Skirennsports.

STANDARD: Wieso ist der Skirennsport so gefährlich?

Fink: Weil kaum ein anderer Sport so multifaktoriell ist, es sind enorm viele Einflüsse da. Der Mensch ist im Grunde nicht dafür gebaut, mit so wenig Schutz und so hoher Geschwindigkeit einen Berg hinunterzurasen. Und es liegt in der Natur der Sache, dass jeder schneller sein will als der andere.

STANDARD: Aber wenn alle um zehn km/h langsamer wären, wäre das egal, weil es doch nur darum geht, schneller als die anderen zu sein.

Fink: Das Bemühen ist ja da. Hannes Reichelt hat einmal vorgeschlagen, man könnte dickere Rennanzüge vorschreiben. Das ist ein spannender Ansatz, und es gibt auch andere Überlegungen. Unter dem Strich ist es halt so, dass im Rennsport wie generell im Leistungssport nicht unbedingt die Gesundheit im Vordergrund steht. Es ist die Aufgabe einer Skifirma, den schnellsten Ski zu produzieren, nicht den sichersten. Und nicht der gesündeste Athlet verdient am meisten, sondern der, der am meisten gewinnt.

STANDARD: Aber der Eindruck, dass sich mehr Läuferinnen als Läufer verletzen, täuscht nicht, oder?

Fink: Das ist im Skirennsport so, aber auch in anderen Sportarten. In Ballsportarten sind eklatant mehr Frauen von Knieverletzungen betroffen. Es hat auch mit körperlichen Voraussetzungen zu tun. Frauen haben weniger Gewicht, weniger Muskelmasse, dennoch sind die Anforderungen enorm. Im Idealzustand gibt es unterwegs kein Problem, aber das Material erlaubt kaum Fehler. Im Rennsport hat der kleinste Fehler leider oft große Konsequenzen.

STANDARD: Sehen schwere Knieverletzungen heute anders aus als früher? Manchmal heißt es, dass Kreuzbänder regelrecht zerfetzt sind.

Fink: Eine isolierte Kreuzbandverletzung ist heutzutage tatsächlich eine Seltenheit. Meniskus, Innenband und/oder Knorpel sind oft dabei. Dank besserer Möglichkeiten der Diagnose, etwa besserer Bildgebung mittels neuerer MRT-Geräte, sieht man heute aber auch mehr. Früher hat man gewisse Meniskus- oder kleinere Knorpelverletzungen gar nicht bemerkt.

STANDARD: Hat der Operateur auch mehr Möglichkeiten als früher?

Fink: Man kann sicher mehr reparieren. Aber auch nicht alles. Für die Prognose nach einem Kreuzbandriss sind die Zusatzverletzungen oftmals mehr entscheidend.

STANDARD: Und doch gibt es Läuferinnen wie Brunner, die Sie dreimal wegen Kreuzbandrissen an ein und demselben Knie operiert haben. Lässt sich das ewig fortsetzen?

Fink: Sicher nicht. Wenn vom Meniskus nicht mehr viel da ist oder der Gelenkknorpel gröber beschädigt ist, kann das Knie großen Belastungen nicht mehr standhalten. Als Chirurgen können wir leider auch ein Kreuzband nicht stärker machen, als die Natur es gemacht hat. Im besten Fall sind wir gleich gut.

STANDARD: Kommt es zu früh zu Comebacks?

Fink: Das war manchmal sicher der Fall. Aber der ÖSV hat sich sehr bemüht und Druck herausgenommen. Wer sich verletzt hat, hat jetzt mehr Zeit. Ich sehe bei jeder Rennläuferin, bei jedem Rennläufer auch die Tragödie, die eine Verletzung darstellt. Wenn sie mehrmals kommen, baut man oft schon eine Beziehung zu ihnen auf. Verletzungen lassen einen nie kalt. Ich wäre der Erste, der sich freut, wenn im Rennsport keine Verletzungen vorkommen.

STANDARD: Sie führen etwa 350 Operationen im Jahr durch, 95 Prozent davon sind Knieoperationen. Wie hoch ist der Anteil von Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern? Und werden sie anders operiert, weil ihre Knie auch danach mehr aushalten müssen?

Fink: Der Spitzensportanteil liegt bei zehn bis 15 Prozent. Operationstechnisch gibt es keinen Unterschied, Spitzensportler werden nicht besser operiert als Otto Normalverbraucher. Der große Unterschied kommt nach der Operation.

STANDARD: Inwiefern?

Fink: Ich bin bei Kreuzbandrissen als Operateur bescheiden. Ich sage meinen Patienten, die Operation macht vierzig Prozent aus und das Danach sechzig Prozent. Ein Spitzensportler muss sich nicht überlegen, wie er die Therapie in seinen Tages- oder Wochenablauf einbaut. Wenn der Sport sein Beruf ist, sind die Therapie und das Training sein Tagesablauf. Das ist der große Unterschied.

STANDARD: Sie haben in den vergangenen Jahren auch immer mehr Fußballer nach Knieverletzungen operiert. Darunter Superstars wie Leroy Sane und Joshua Kimmich von Bayern München, Giorgio Chiellini von Juventus oder Nicolo Zaniolo von AS Rom. Deren Knie sind relativ wertvoll. Verspürt der Operateur da Druck?

Fink: Wenn das Knie abgedeckt ist und man zu operieren beginnt, macht es keinen Unterschied, wer da liegt. Aber ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass ich vorher und nachher völlig entspannt bin. Vor allem wenn dir vor der Operation der Manager eines Fußballers noch auf die Schulter klopft und sagt: "You know, doc, this is a very important knee." Erwartungshaltung und Druck sind da schon sehr hoch.

STANDARD: Wenn sich ÖSV-A-Kader-Mitglieder verletzen, erfährt man das. Wie häufig sind Verletzungen im Nachwuchsbereich?

Fink: Bei den 16- und 17-Jährigen, wenn es in die Fis-Rennen geht, passiert einiges. Das ist schon ein Problem. Junge Läuferinnen und Läufer brauchen riesigen Trainingsumfang, um besser zu werden. Und wenn das nach Verletzungen nicht mehr möglich ist, sind Karrieren manchmal früh zu Ende. Es gibt Fälle, da muss man diesen jungen Menschen und auch ihren Eltern sagen: Das wird nichts mehr.

STANDARD: Wie oft folgt einem Kreuzbandriss ein zweiter?

Fink: Bei einer 16-jährigen Rennläuferin liegt dieses Risiko statistisch bei fast vierzig Prozent. Insgesamt gibt es eine 15- bis 20-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass im selben oder im anderen Knie ein weiterer Kreuzbandriss passiert.

STANDARD: Handle ich als Vater oder Mutter verantwortungsvoll, wenn ich mein Kind Skirennen fahren lasse?

Fink: Diese Frage habe ich mir natürlich auch schon gestellt. Ich habe drei Kinder. Sie fahren begeistert Ski, aber keine Skirennen. Ich bin als Jugendlicher selbst Skirennen gefahren. Wenn meine Kinder diesen Weg gewählt hätten, hätte ich das trotz allen Wissens um das Risiko trotzdem unterstützt.

STANDARD: Wie stark hat Sie die Corona-Pandemie beruflich betroffen?

Fink: Es gibt Kliniken, die zu achtzig Prozent vom Tourismus leben. Bei uns machen Touristen weniger als ein Prozent aller Patienten aus. Zu uns kommen die Sportler und die Einheimischen.

STANDARD: Wann waren Sie zuletzt Ski fahren?

Fink: Vor zwei Tagen. Und in zwei Tagen geh ich wieder. Ich wohne in Innsbruck am Fuß der Seegrube, bei guter Schneelage kann ich vor der Haustür abschwingen. Und heuer gibt es auch die Chance, dort Ski zu fahren, wo man sonst nicht hinfährt, weil es zu überlaufen ist. (Fritz Neumann, 15.2.2021)