Verbunden mit einem Computer könnte das Gehirn zu neuen Höchstleistungen angestachelt werden.

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Unser Gehirn ist eines der letzten großen Geheimnisse der Wissenschaft: Generationen von Medizinerinnen, Psychologen, Philosophinnen und Laien versuchen seit Jahrhunderten zu verstehen, was da in unseren Köpfen eigentlich vor sich geht. Der Hirn- und Kognitionsforscher Newton Howard will jetzt nichts Geringeres als den "Programmiercode" des Hirns geknackt haben. Laut ihm sollen neuronale Erkrankungen bald der Vergangenheit angehören.

STANDARD: Herr Howard, haben Sie tatsächlich den "Code" des menschlichen Gehirns geknackt?

Howard: Ich glaube schon. Zumindest was das Modell des Informationsaustauschs auf neuronaler Ebene betrifft. Da ist vieles nicht mehr so mysteriös, wie es noch vor einigen Jahren war.

STANDARD: Was ist die revolutionäre Erkenntnis?

Howard: Im Grunde haben wir herausgefunden, dass alle Regionen des Hirns im Wesentlichen die gleiche Struktur haben und ähnlich funktionieren. Die unterschiedlichen Funktionen der Hirnareale ergeben sich aus dem "Code", mit dem sie arbeiten – die chemisch-elektrischen Signale auf neuronaler Ebene, die im ganzen Hirn kohärent sind. Wir untersuchen daher die Möglichkeit, bestimmte Neuronenkonstellationen ein- oder auszuschalten und so ein bestimmtes Verhalten zu erzeugen.

STANDARD: Das heißt, dass sich alles, sogar die kompliziertesten Gefühle und Erinnerungen, auf einen Haufen Daten reduzieren lässt?

Howard: Ein bisschen raffinierter ist das Gehirn schon. Es ist, wie wenn wir ein kompliziertes Konzept mithilfe von Sprache ausdrücken. Die Worte vermitteln möglicherweise nicht die Gesamtheit des Konzepts, aber wir verstehen, worum es geht. Genauso ist es im Hirn: Daten aus dem Hirn können uns ein Verständnis dafür geben, was dort passiert. Aber klar, Intimität etwa ist nicht einfach nur die Ausschüttung von Oxytocin.

STANDARD: Trotzdem haben Sie ein "Betriebssystem" für das Hirn geschaffen und es BrainOS genannt – in Anlehnung an das iPhone-Betriebssystem iOS. Was könnten wir damit tun?

Howard: Es ermöglicht den neuronalen Schaltkreisen in unserem Hirn den Austausch mit der Außenwelt. Wir könnten etwa einmal Roboterarme mit dem Hirn bewegen, eine biomedizinische Schnittstelle schaffen, etwa um Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Depressionen, Zwangs- und Angststörungen zu heilen. Wir könnten sogar ein Quantencomputer-Overlay für unser Hirn schaffen.

STANDARD: Also könnten auch gesunde Menschen von Brain-Computer-Interfaces profitieren?

Howard: Natürlich. Eine Studie, die wir kürzlich durchgeführt haben, zeigt, dass Hirnstimulation beim Erlernen von Sprachen helfen kann. Es könnte auch einfacher werden, ein neues Musikinstrument zu lernen oder die sportlichen Leistungen zu steigern. Auch den Intelligenzquotienten könnten wir steigern – allerdings wissen wir da noch nicht, um welches Level.

STANDARD: Wenn Lernen so einfach wird, brauchen wir dann noch Schulen?

Howard: Sicher nicht mehr in der heutigen Form. Wenn wir Kreativität und Freiheit lehren wollen, dann können wir das doch nicht in Strukturen tun, die an Gefängnisse erinnern! Jeder hat einen anderen Lernstil und eine andere Lerngeschwindigkeit. Das individualisierte Lernen der Zukunft wird von Technologie begleitet werden. Dinge wie Legasthenie und Lernschwächen werden damit der Vergangenheit angehören.

STANDARD: Das klingt alles sehr futuristisch. Wie weit weg sind wir von dem, was Sie beschreiben?

Howard: Was die technische Machbarkeit angeht, ist schon vieles möglich. In den letzten zehn Jahren hat sich enorm viel getan, was neuronales Rechnen angeht. Die große Herausforderung sind rechtliche Hürden und die breite Akzeptanz in der Bevölkerung, wohl auch wegen ethischer Bedenken.

STANDARD: Die wären?

Howard: Es geht vor allem um Datenschutz und Sicherheit. In der Vergangenheit kam es schon vor, dass Implantate, etwa Herzschrittmacher, gehackt wurden. Die Menschen haben Angst, dass das auch bei Hirnimplantaten der Fall sein könnte. Das war übrigens auch einer der Gründe, BrainOS zu schaffen – weil es vorher kein Projekt gegeben hatte, das von Grund auf auf Sicherheit und Datenschutz aufbaut.

STANDARD: Man könnte auch argumentieren, dass wir als "Maschinenmenschen" einige der Attribute verlieren würden, die uns menschlich machen.

Howard: Ich glaube, dass es einfach seine Zeit braucht, bis wir diese Technologie akzeptieren. Wir werden langsam erkennen, welche Vorteile sie bietet. Ein Kind, das mit kognitiven Störungen geboren wird, hat das Recht, diese Hürde zu beseitigen. Dazu kommt, dass die Technologie alles andere als perfekt ist. Wir schaffen keine Supermenschen und Superkinder, sondern einfach ein "level playing field" für alle, indem wir einige unserer menschlichen Einschränkungen ausgleichen. Dazu übernehmen wir Menschen die Macht über die Maschine – und nicht umgekehrt. Und überhaupt: Jene, die behaupten, dass Maschinen den Menschen übernehmen werden, müssen eindeutig noch viel über unser Gehirn lernen! Selbst der durchschnittlichste Mensch kann mehr als jede Maschine, die existiert, und jede, die wir jemals erfinden werden. (Philip Pramer, 14.2.2020)