Gottfried Küssel 1982.

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Gottfried Küssel 2014 vor Gericht.

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Gottfried Küssel führte zeitweise die Corona-Demo am Samstag in Wien an. Hier verhandelt er mit der Polizei über die Route.

Küssel auf dem Wiener Karlsplatz bei einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung.

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Gottfried Küssel gilt seit Jahrzehnten als eine Art Säulenheiliger des neonazistischen Milieus in Österreich und Deutschland, in dessen Umfeld sich etwa der ehemalige FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache oder der Identitären-Chef Martin Sellner tummelten. Grund für sein Ansehen in der Szene sind auch die insgesamt 16 Jahre Haft, die er bisher für einschlägige Delikte wie Wiederbetätigung kassiert hat. Darüber sprach er kürzlich in einem Interview mit einem Aktivisten aus dem Umfeld der Corona-Demos. Er ist wieder da, und sein Erscheinen auf diesen Demos garantiert medialen Widerhall. Am vergangenen Samstag führte Küssel einen Corona-Umzug in Wien zeitweise an und verhandelte mit anwesenden Polizisten über die Route durch die Stadt.

Seine rechtsextreme Laufbahn hat der 1958 geborene Küssel Mitte der 1970er-Jahre in Wien begonnen. Damals fasste er bei der "Aktion Neue Rechte" (ANR) in der Szene Fuß, einer der militantesten Gruppierungen des österreichischen Nachkriegsneonazismus. Im Jahr 1977 trat er nach eigenen Angaben der NSDAP/AO bei, der aus den USA agierenden Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei/Auslandsorganisation, die weltweit Neonazis mit Propagandamaterial versorgt. In den folgenden Jahren nahm er an paramilitärischen Übungen teil, trat als Saalschützer bei Veranstaltungen in Erscheinung und war 1980 Herausgeber der Zeitschrift "Halt" – einer Postille, in der regelmäßig die Shoa geleugnet wurde und die in den 1980er-Jahren immer wieder für Aufsehen sorgte, weil sie an Schulen verschickt wurde.

Gründung der Volkstreuen Außerparlamentarischen Opposition

Im Jahr 1980 kandidierte Küssel für die FPÖ bei der Gemeinderatswahl in Reichenau an der Rax. Er tauchte bei Organisationen wie der Nationaldemokratischen Partei (NDP), der Ausländer-Halt-Bewegung, der Nationalen Front, der Volkssozialistischen Partei oder der neonazistischen Kameradschaft Babenberg auf und versuchte jugendliche Fußballfans im Rapid-Umfeld für seine Sache zu gewinnen. Endgültig zu einer Schlüsselfigur der Szene wurde Küssel 1986 mit der Gründung der Vapo, der Volkstreuen Außerparlamentarischen Opposition. Aus diesem Jahr ist auch ein Flugblatt erhalten, in dem das Tagebuch der Anne Frank als Fälschung bezeichnet wird.

In den kommenden Jahren steuerte Küssel in Österreich mit der Vapo auf Erfolgskurs und knüpfte enge Kontakte zu Gesinnungsfreunden in der Bundesrepublik Deutschland. In Wien, Langenlois, Krems, St. Pölten, Wiener Neustadt, Salzburg und Gmunden entstanden Vapo-Gruppen. Küssel wurde vom damaligen deutschen Neonaziführer Michael Kühnen zum "Bereichsleiter Ostmark" ernannt. Das erklärte Ziel der Vapo war die Neugründung der NSDAP und die erneute Machtergreifung. Die Truppe sah sich als Neuauflage der SA, der Sturmabteilung der Nazis. Ihre Mitglieder warfen Molotowcocktails auf ein Flüchtlingsheim und ein besetztes Haus in Wien-Mariahilf, sorgten mit Schmierereien, Angriffen auf Antifaschisten, Aufmärschen, Wehrsportübungen und ihren Waffensammlungen permanent für Schlagzeilen.

1990 bezeichnete sich Küssel in einem ORF-Interview als Nationalsozialisten. 1991 übernahm er nach dem Tod Kühnens auch die Führung von dessen deutscher Neonazitruppe, der Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front (GDNF) – einer Dachorganisation verschiedener Gruppen, die sich in der Tradition der SA sahen. Damit war Küssel eine große Nummer in der Szene. Er befehligte Aufmärsche, agitierte und versuchte Kämpfer für den Bürgerkrieg in Jugoslawien anzuwerben. Einige Mitglieder nahmen auch auf der Seite kroatischer Milizen am Bürgerkrieg teil.

Aktive Zeit in Ostberlin

Besonders aktiv war er auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, mit deren Zusammenbruch 1990 sich ein enormes Rekrutierungspotenzial ergab. Küssel half mit, in einem besetzten Haus einen Neonazi-Stützpunkt in Ostberlin aufzubauen, und war als Handelsreisender in Sachen Neonazismus unterwegs. Seine Stimmung jener Tage gibt ein Lied wieder, das er damals vor laufender Kamera zum Besten gab. Darin heißt es: "Und sind wir dann die alleinige Führung, dann weinen sie alle nur mehr vor Rührung; die Juden, die kriegen die nötige Reife, und werden paketiert zu schöner Kernseife!"

Im Jänner 1992 wurde Küssel in Wien verhaftet, nachdem er zuerst einem deutschen Fernsehender ein Interview gegeben hatte, in dem er die "Wiederzulassung der NSDAP als Wahlpartei" forderte, und danach in der US-amerikanischen ABC-News-"Nightline" Adolf Hitler als den größten Mann der deutschen Geschichte bezeichnete sowie den Holocaust und die Existenz von Gaskammern zur Ermordung von Menschen in nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern leugnete. Auf die Verhaftung folgte die Verurteilung zu elf Jahren Haft wegen NS-Wiederbetätigung. Die Vapo war damit mehr oder weniger Geschichte. Im Zuge der Ermittlungen zu den Briefbombenattentaten des österreichischen Rechtsextremisten Franz Fuchs 1993 wurde die Vapo komplett zerschlagen.

1999 wurde Küssel entlassen und tauchte danach immer wieder bei einschlägigen Veranstaltungen im In- und Ausland auf. Etwa bei Burschenschaftertreffen oder bei einem Gedenkmarsch für den NS-"Fliegerhelden" Walter Nowotny in Wien, wo sich neben FPÖ-Politikern immer wieder auch das Who’s who der rechtsextremen Szene blicken lässt. Ein Foto aus dem Jahr 2008 zeigt Küssel gemeinsam mit dem späteren Identitären-Chef Sellner.

2010 wird Küssel in einem Artikel des Nachrichtenmagazins "Profil" über eine Schlägerei in einem Wiener Rotlichtlokal genannt, das von der deutschnationalen Burschenschaft Silesia als Partylocation ausgewählt wurde. Im Zuge einer feuchtfröhlichen Nacht rief die Chefsekretärin des damaligen FPÖ-Chefs Strache ihren Bekannten Küssel zur Unterstützung herbei. Ihr Mann war mit der Security des Etablissements aneinandergeraten, nachdem er zuvor seine Frau "angeblich verprügelt hat", wie das "Profil" damals schrieb. Küssel kam dem Ersuchen der Frau zwar nach, mischte sich aber nicht weiter ein.

Verurteilung wegen NS-Wiederbetätigung

2011 wurde Küssel in Zusammenhang mit der neonazistischen Website "Alpen-Donau-Info", kurz "Adi", verhaftet, 2013 zu neun Jahren, 2014 jedoch nach einer Strafmilderung zu sieben Jahren Haft wegen NS-Wiederbetätigung verurteilt. Diese Website war über Jahre das Zentralorgan der österreichischen Neonazis. Das behördliche Vorgehen gegen Küssel und andere Strippenzieher der Hassseite sorgte für einen Generations- und Strategiewechsel in der Szene. Die Ermittlungen standen an der Wiege der rechtsextremen Identitären Bewegung, die erstmals 2012 in Österreich auftauchte. Zuvor hatten Personen aus dem Küssel-Umfeld einen Gang zurückgeschaltet, wie Andreas Peham, Rechtsextremismusexperte des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW), erklärt.

Mit Sellner schaffte es ein ehemaliger Aktivist aus Küssels Umfeld, rasch zum Gesicht der Identitären zu werden. Seither steht er mit seinen einstigen Kameraden auf Kriegsfuß, die auf einen orthodoxen Nationalsozialismus setzen, dessen Leitbild das 25-Punkte-Programm der NSDAP ist. Die Identitären werden als Verräter an der Sache gesehen, da sie ohne Hakenkreuz und ohne deutschnationalistisches Gehabe auftreten. Dazu kommen persönliche Animositäten. So wird Sellner vorgeworfen, Chef einer "Bettlermafia" zu sein – eine Anspielung auf die Spendensammeltätigkeit des Identitären-Chefs, der seinen Lebensunterhalt auch durch Spenden bestreitet. Sellner selbst distanziert sich von seiner Zeit bei Küssel und tritt auch nicht gemeinsam mit ihm bei Corona-Demos auf.

Nach seiner Haftentlassung sorgte Küssel 2019 mit einem Interview in dem deutschen Blatt "Nationaler Sozialismus Heute" ("N.S. Heute") für kurzes, aber kräftiges Rauschen im Blätterwald. Das Gespräch schlug Wellen, da er darin auch über seine Bekanntschaft mit dem mittlerweile ehemaligen FPÖ-Obmann Strache plauderte. Küssel deutete darin an, belastende Informationen über Strache zu haben. Kennengelernt habe er Strache, als dieser "etwa 14 war". In den 1980er-Jahren habe der Ex-Vizekanzler "für unsere damalige 'Ausländer-Halt-Bewegung' an Wahlkampfaktionen teilgenommen". Strache habe "nie unsere Blutgruppe gehabt, aber im stillen Kämmerlein hat er den großen Nationalsozialisten gespielt. Da gab es einige lustige Auftritte, über die will ich jetzt aber nicht reden, vielleicht brauchen wir das noch mal." Unmittelbar nach Veröffentlichung des Interviews wurde es wieder still darum – das sogenannte Ibiza-Video erschütterte die Republik, und Strache trat zurück.

Auftritte bei Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen

Ab Mitte 2020 tritt Küssel wieder in der Öffentlichkeit, bei den Corona-Demos in Österreich, in Erscheinung. Am 16. Jänner hielt er ein Transparent der "Corona-Querfront". So nennt sich eine Gruppierung, die gegen die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der Pandemie Front macht. Über die politische Verortung der Gruppe gibt deren Telegram-Kanal Aufschluss. Dort wird zum Beispiel ein Beitrag der deutschen Kleinstpartei "Der III. Weg" geteilt, die von den deutschen Behörden als "Auffangbecken von Personen, die der neonazistischen Szene angehören", beschrieben wird. In der Corona-Querfront finden sich auch Personen, die Küssel aus ANR- und Vapo-Zeiten kennt.

Als "Querfront" bezeichneten Rechtsextreme in der Weimarer Republik ihre Versuche, Brücken zur radikalen Linken zu schlagen. Mehr als kurzzeitige Bündnisse entstanden daraus jedoch nie, da sich beide Lager unversöhnlich gegenüberstanden und bekämpften. Die aktuelle Verwendung des Begriffs kann als Marketinggag betrachtet werden. Es geht wohl eher um den Versuch eines Brückenschlags mit Anhängern von Verschwörungsmythen, Impfgegnern und Corona-Leugnern. (Markus Sulzbacher, 15.2.2021)