Das haarlose Ideal ist nach wie vor die Richtschnur.

Die Künstlerin Molly Greene lebt und arbeitet in L.A. Ihre Haarbilder spielen mit dem Effekt der Entfremdung von etwas sehr Vertrautem. www.mollyagreene.com

Foto: Artwork Molly Greene "Available"

Foto: Artwork Molly Greene "Dehiss the Ruminant"

Ein Bartschatten über der Oberlippe, die Fingernägel rot lackiert. Disssgrace nennt sich die queere, nicht binäre Künstlerin aus Brooklyn, die auf dem Instagram-Account der amerikanischen Rasiermarke "Billie" posiert. Auf einem anderen Bild sind zwei Frauen, die ihre Hände heben, zu sehen: "Hands up if you’re registered to vote!" Die eine trägt auf dem Foto Achselhaar, die andere ist rasiert. Ausgerechnet eine Rasiermarke wirbt mit Frauen, die Körperhaare zeigen – unter den Achseln, an den Beinen und auf den Zehen.

So penibel wie noch vor zehn Jahren mithilfe von Photoshop jedes Härchen eliminiert wurde, sorgen mittlerweile in so mancher Werbung nun sorgsam platzierte Haarstoppel für Aufmerksamkeit. Die Bilder der Rasiermarke Billie gleichen feministischen Instagram-Kampagnen wie der der US-amerikanischen Studentin Laura Jackson, die unter dem Hashtag #Januhairy Frauen dazu aufrief, sich einen Monat lang nicht zu rasieren.

Bild-getrieben

Feministische Bekenntnisse der Body-Positivity-Bewegung sind zum Verkaufsargument geworden. "Die Werbung steigt auf ursprünglich politisch gemeinte Kritikformen, soziale Bewegungen und Aktivismen auf, weil sich so kaufkräftige, linksliberale, grüne Millennial-Käuferschichten und damit ein attraktiver Markt erschließen", erklärt Paula-Irene Villa Braslavsky, Soziologin und Genderforscherin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Neu ist diese Entwicklung nicht. Mit dem Aufkommen von Social Media vor rund zehn Jahren ist das Körperhaar wie Lippenstift, Piercing und Tattoo zu einem Puzzlestück der Selbstinszenierung geworden. Zugenommen habe die Infragestellung des haarlosen Körpers nicht, sie sei nur sichtbarer geworden, "weil alles über intensivierte, noch Bild-getriebenere soziale Medien wie Tiktok und Instagram sichtbarer wird", glaubt die Soziologin.

Disssgrace auf dem Instagram-Account von Billie.

Gepflegtes Körperideal

Tatsächlich liegt die Vermutung nahe, dass die Behaarung heute eine Spielart des glatten, gepflegten, kontrollierten Körperideals ist. Es gibt insgesamt nur wenige unabhängige Untersuchungen dazu, wie es um die großteils nicht sichtbare Körperbehaarung bestellt ist. Immerhin: Eine belgische Studie stellte 2019 fest, dass von 4.000 Befragten rund 80 Prozent der Frauen und 39 Prozent der Männer den Intimbereich rasieren.

Werden Haare stehen gelassen, dann ist wichtig, dass jeder Stoppel seinen Platz hat: "Wenn Achselhaare, Bart, Schamhaare, Haare an den Beinen sichtbar sind, dann darf es nicht so aussehen, als sei das einfach so passiert", erklärt Villa Braslavsky. "Styling, Pflege, die Eigenleistung der Person sollten erkennbar sein."

Anders gesagt: Das neonpink gefärbte Achselhaar, das Popstar Janelle Monae im Dezember 2019 öffentlich zur Schau stellte, hat wenig mit den wilden Haarbüscheln zu tun, die in den Siebzigerjahren ganz selbstverständlich unter aller Armen hervorschauten. Das letzte Tabu ist wohl immer noch das "ungepflegte" Körperhaar.

Voller Busch

Doch die Pandemie könnte langfristig haarige Konsequenzen haben. Während die Waxingstudios geschlossen waren und sich der Lebensmittelpunkt in die vier Wände verlagerte, sei vielen die Lust auf Rasierer, Enthaarungscremes und Kaltwachsstreifen vergangen, so die Theorie einiger Lifestyle-Blätter.

"Ein voller Busch löst als Beauty-Trend jetzt das Bikini-Waxing ab", orakelte das Magazin Instyle bereits im Frühjahr 2020. Auch auf der Onlineplattform Refinery29 bekannten sich Frauen und Männer zum Laisser-faire, zu stoppeligen Beinen und Intimzonen, allerdings auch zu Bikini-Trimmern und Laserbehandlungen.

Das verwundert nicht, das haarlose Ideal ist nach wie vor die Richtschnur. In den meisten Gegenden der Welt sei das sowieso schon viel länger verbreitet, so Villa Braslavsky: In Argentinien beispielsweise würden Haare bei Frauen seit den 1910er-/1920er-Jahren ganz selbstverständlich entfernt, "weil sie als wild, als exotisch, als animalisch, als nah an der Natur galten." Dass die Pandemie imstande sein könnte, jenes Ideal des glatt rasierten Körpers ernsthaft ins Wanken zu bringen, daran glaubt die Soziologin nicht.

Doch wie sieht es aus in den wiedereröffneten Waxingstudios? Spüren sie bereits die Folgen des Lockdowns? Karin Hampel vom Döblinger Studio Sugarwax meint: Ganz im Gegenteil, die Befürchtungen nach dem ersten Lockdown, dass sich im Homeoffice die Prioritäten verschöben, hätten sich nicht bewahrheitet. Seit der Wiedereröffnung Anfang Februar habe sie ein "volles Haus".

Die meisten Kunden hätten sich in den vergangenen Wochen nicht rasiert, jetzt wollen sie ihre Stacheln am liebsten per Sugaring (Haarentfernung über eine zuckerhaltige Paste) am kompletten Körper loswerden. Neunzig Prozent der Frauen ließen sie im Intimbereich entfernen, am beliebtesten sei der haarfreie Hollywood-Cut, es folgten Achsel und Beine, so Hampel.

Den Frauen mittlerweile dicht auf den Fersen: die Männer. Hätten sie in Hampels Studio vor sechs Jahren nur zehn Prozent der Kundschaft ausgemacht, sei nun ein Drittel ihrer Kunden männlich, erklärt die Unternehmerin. Die meisten ließen den Rücken enthaaren, dann folge der Intimbereich. Offenbar haben sich die Männer von den Frauen etwas abgeschaut. (Anne Feldkamp, RONDO, 19.2.2021)