In Sydney tummelten sich im Jänner Menschenmassen an den Stränden. Auch in mehreren anderen Staaten sind Treffen, Partys und Stadionbesuche wieder möglich.

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Australien, China, Thailand und die kanadische Atlantikküste haben nicht allzu viele Gemeinsamkeiten. Dieser Tage werden sie aber häufig in einem Satz genannt. Sie sind gemeinsam mit Taiwan und Neuseeland die Sehnsuchts- und Beispielorte zweier Initiativen, die derzeit in Mitteleuropa in den Fokus der Politik geraten. "Zero Covid" und "No Covid" heißen sie – und sie versuchen ein ähnliches Ziel zu erreichen: Die Zahl der neuen Corona-Infektionen auf ein sehr niedriges Niveau zu drücken. Idealerweise auf null.

Dass dies gehe, das zeigen die genannten Länder und Gebiete – und dass es nötig sei, das zeige die Wissenschaft. Impfungen würden nicht alle Teile der Bevölkerung erreichen; auch Junge würden oft an womöglich bleibenden Langzeitschäden erkranken, dem sogenannten Long Covid; Risikogruppen könne man nicht vollkommen vom gesellschaftlichen Leben ausschließen, ihnen gehören allein in Österreich mehrere Millionen Menschen an. Selbst wenn man wollte: Auch sie müssen in den Supermarkt, zum Friseur – und in die Arbeit. Und dann sind noch die Virusmutationen, gegen die Impfungen womöglich eines Tages nicht mehr helfen.

Sehr verschiedene Wege zur Null

Der Weg zum Ziel ist aber ein unterschiedlicher, und das hat auch mit der Entstehung der beiden Konzepte zu tun: Zero Covid ist, wenn man so will, aus sich selbst entstanden. Getragen wird das Konzept von Ärztinnen und Ärzten und Menschen aus der Wissenschaft. In Österreich haben mittlerweile mehr als 5.000 Menschen eine Petition unterzeichnet, die allerdings schon von den Öffnungen Anfang Februar überholt wurde. Die meisten Zero-Covid-Proponenten kommen aus dem linken Spektrum. Kernforderung ist ein mehrwöchiger, extrem starker Lockdown, in dem auch die Fabriken stillstehen sollen. Der Clou: Wer nicht arbeiten darf oder – etwa wegen Kinderbetreuung – kann, soll unterstützt werden. Geld kommt aus einer Solidaritätsabgabe, die sich aus Steuern für Vermögende und aus einem Anteil aus Firmengewinnen speist. Klares Ziel: die Null.

No Covid hingegen ist das gedankliche Kind einer Runde an deutschen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern. Virologinnen sind es, Physiker, Menschen aus der Politikwissenschaft und der Ökonomie. Im TV tritt oft Clemens Fuest als Sprecher auf, Chef des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Man dürfe, sagte er dabei dem Sender der "Welt", seine Gruppe nicht mit Zero Covid verwechseln, einem "sehr radikalen Vorschlag". Denn man müsse "auch auf die Belange der Wirtschaft Rücksicht nehmen".

Fabriksschließungen etwa, so Fuest, müsse man vermeiden. Aber der Wirtschaft wäre nicht geholfen, wenn man das Virus nicht in den Griff bekomme und von einem Lockdown in den nächsten taumle. Ein Hintergrund, auf den der Virologe Christian Drosten im Februar in seinem NDR-Podcast aufmerksam machte: Krankenstände. Kein Unternehmen wolle die Unberechenbarkeit für seine Produktion riskieren, die sich aus einer großen Covid-Welle unter Jungen ergebe, auch wenn die Alten schon geimpft seien. Und keiner wolle den dauerhaften Ausfall von Arbeitskräften, die wegen Long Covid womöglich arbeitsunfähig würden. Null muss es für No Covid allerdings nicht sein: Eine 14-Tage-Inzidenz um die 10 hält man für hinnehmbar.

Eine Gemeinsamkeit beider Gruppen: die Forderung, Grenzen zu schließen. Das haben auch die No-Covid-Initiatoren und -Initiatorinnen am Dienstag in einem Brief an die "Süddeutsche Zeitung" wiederholt. Länder, Regionen, bei Zero Covid auch Häuserblocks, sollen in grüne, gelbe und rote Zonen eingeteilt werden. Grün sind jene, in denen es keine Ansteckung gibt. Ausreisen aus gelben oder roten Gebieten, besonders in grüne, sind untersagt oder nur mit Quarantäne möglich. Alles wird überwacht, bei Zero Covid etwa strenger als bei No Covid. Das wird als totalitär kritisiert.

Man hofft auf einen psychologischen Effekt: Jeder werde sich bemühen, damit das eigene Gebiet möglichst schnell zur grünen Zone wird. So etwa ist es in Australien gewesen, wo Reisen zwischen den einzelnen Bundesstaaten teils über Monate nicht möglich waren – und wo in Melbourne und Adelaide tatsächlich größere Corona-Ausbrüche auf Null-Inzidenzen gedrückt wurden. Und so ähnlich war es auch im kanadischen Neufundland, das derzeit nur Einreisen aus den anderen-Atlantik-Provinzen erlaubt, die sich ebenfalls dem Ziel einer Null-Inzidenz verschrieben haben. Im Moment ist die Provinz allerdings wieder im Lockdown, weil an nur einem Tag zehn neue Fälle entdeckt wurden.

Die Grenzen scharf kontrollieren: Zumindest das ist ein Ansatz, den auch die EU schon mehrfach verfolgt hat – bei deren Umsetzung sie aber genauso oft gescheitert ist. Zuletzt hatten sich die Staats- und Regierungschefs Ende Jänner darauf geeinigt, "dunkelrote Zonen" festzulegen, in denen sich eine sehr starke Verbreitung mutierter Virusvarianten feststellen lasse. Allerdings wurde es dann "den Ländern überlassen", wie sie mit dem grenzüberschreitenden Verkehr umgehen. Resultat: Zu zusätzlichen Einschränkungen kam es kaum, der Pendelverkehr ist für Wirtschaft und Versorgung zu wichtig. Dass No oder Zero Covid also flächendeckend in der EU funktionieren würden: unwahrscheinlich.

No-Covid-Freund Markus Söder

Wie es aussehen kann, wenn es doch dazu kommt, musste am Wochenende Tirol feststellen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der die bis März verlängerte Grenzschließung veranlasst hatte, hat sich auch schon als No-Covid-Unterstützer zu erkennen gegeben. Auch im deutschen Kanzleramt ist man der Initiative offenbar nicht abgeneigt. Andere Bundesländer sind dagegen.

Ein Manko der Strategien: Wie eine Exitstrategie aussehen kann, ist nicht ganz klar. Seit einem Jahr etwa sind Australien und Neuseeland von der Welt abgeschnitten. Wird es möglich sein, wieder zu öffnen, wenn alle geimpft sind? Unsicher: Denn es wird ja jene geben, die sich nicht impfen lassen können oder wollen. Sie wären dann erst recht gefährdet.

"Reise-Bubbles", wie sie Australien und Neuseeland oder Singapur und Hongkong, einrichten wollten, sind auch daher immer wieder gescheitert: Denn schon das Auftreten nur sehr weniger neuer Fälle ist ja Anlass für neue Lockdownsund für eine weitere völlige Schließung der Grenzen. Thailand versucht seine Tourismusindustrie gerade damit wieder in Schwung zu bringen, indem es Quarantäne-Hotels, in denen sich Einreisende 14 Tage lang aufhalten müssen, als Luxus-Bleiben anpreist. "Happy Quarantine" lautet das Stichwort.

Doch sind die internationalen Beispiele nun überhaupt mit dem vergleichbar, was die Initiativen fordern? Bedingt. Aber es gibt Anhaltspunkte: Australien und Kanadas Atlantikprovinzen zeigen, dass das Schließen interner Grenzen hilft. Vietnam tat mehrfach Ähnliches – und belegt gemeinsam mit Thailand, dass man keine Insel sein muss, um die Null zu erreichen. Freilich sind beides Diktaturen. So eng mit Nachbarn verbunden wie die meisten EU-Staaten ist keines der Gebiete. Aber sie zeigen, dass das Ziel der Null prinzipiell erreichbar ist, wenn man will – und dass der Weg dorthin kein ewiger ist, sondern nur wenige Wochen dauert. (Manuel Escher, 17.2.2021)