Mögen die Niederlande auch von der zweiten Corona-Welle hart getroffen worden sein – die Deiche, die das flache Land an der Nordsee zusammenhalten, sie halten stand. Warum dieser Vergleich wichtig ist, wurde am Dienstag während einer Gerichtsverhandlung in Den Haag deutlich.

Denn anders als das Horrorszenario Deichbruch, bei dem weite Teile der Niederlande überflutet würden, stellt die Pandemie laut dem Urteil eines Bezirksgerichts in Den Haag keinen "besonderen Notfall" vor, der es der Regierung erlaubt hätte, per Eilverfahren die umstrittenen nächtlichen Ausgangssperren – von 21 bis 4.30 Uhr – durchzupeitschen.

Ab sofort, so die Richter, sei die "avondklok", die bei ihrer Einführung Mitte Jänner zu heftigen Krawallen geführt hatte, somit null und nichtig. Doch die Freude bei den Lockdown-Gegnern sollte nur kurz währen. Das Berufungsgericht kassierte das Urteil der Bezirksrichter auf Antrag der Regierung prompt – und entscheidet nun am Freitag, ob die Sperrstunde nicht doch rechtens war. So lange bleibt sie in Kraft. Die Vorsitzende Richterin Marie-Anne Tan-de Sonnaville erklärte, das Interesse des Staates, das Virus zu bekämpfen, "hat mehr Gewicht" als jenes der Anti-Lockdown-Gruppe, die die Klage eingebracht hatte.

Premier Mark Rutte will auf Nummer sicher gehen.
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"Mittlere bis schwere Grippe"

Die Gruppe, die sich selbst "Viruswaarheid" ("Viruswahrheit", Anm.) nennt, war gegen die ihrer Meinung nach überzogenen Maßnahmen der Regierung vor Gericht gezogen. Ihr Argument: Die Obrigkeit habe eigenmächtig gehandelt und Bürgerrechte ohne Absprache mit dem Parlament beschnitten. Der von der Regierung beschworene Notfall liegt nach Ansicht der Gruppe, die Covid-19 mit einer "mittleren bis schweren Grippe" vergleicht, ohnehin nicht vor.

"Viruswaarheid"-Sprecher Willem Engel, der im vergangenen Sommer den Mund-Nasen-Schutz mit dem "Judenstern" der NS-Zeit verglich und unmittelbar nach seinem kurzlebigen Sieg für den Abend Karnevalsfeiern in den Straßen der Niederlande vorhersagte, gab sich enttäuscht. Man sei Zeuge einer Scherzveranstaltung geworden, der Rechtsstaat habe versagt, die Richterschaft sei voreingenommen.

Impfgegner ohne Geschmack auf dem Amsterdamer Museumplein.
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Appell an die Vernunft

Ministerpräsident Mark Rutte, der nach dem Sturz seines rechtsliberalen Kabinetts wegen der sogenannten Beihilfenaffäre rund um zu Unrecht zurückgefordertes Kindergeld bis zur Parlamentswahl im März nur geschäftsführend im Amt ist, rief noch am Abend die Niederländerinnen und Niederländer auf, die Sperrstunde trotz der juristischen Verwirrung einzuhalten. "Die Maßnahme ist wichtig, um endlich wieder mehr Freiheit zurückzubekommen", sagte er. Und sein Justizminister Ferdinand Grapperhaus appellierte an die Vernunft seiner Landsleute: "95 Prozent haben sich bisher an die Regeln gehalten, dabei soll es bitte bleiben."

Um "Chaos" und einen Jojo-Effekt bei den Infektionszahlen zu verhindern, will der wahlkämpfende Rutte aber auf Nummer sicher gehen. Das Kabinett hat noch am Dienstag ein neues Eilgesetz auf den Weg gebracht, um die "avondklok" auch für den Fall zu retten, dass die Höchstrichterinnen und -richter das Urteil doch bestätigen. König Willem Alexander hat dem Antrag bereits seinen Sanktus gegeben, nun wird dieser dem Parlament vorgelegt.

Nach Einführung der "avondklok" war es zu schweren Ausschreitungen gekommen – so wie hier in der Hauptstadt Amsterdam.
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Unklare Mehrheiten

Die Zweite Kammer des Haager Parlaments kehrt deshalb früher aus den Ferien zurück, um den neuen Gesetzesvorschlag zu debattieren. Die meisten dort vertretenen Parteien unterstützen den strengen Corona-Kurs der scheidenden Regierung. Ob es auch in der Ersten Kammer, dem niederländischen Senat, für eine Mehrheit reicht, ist indes unklar. Dort verfügt die Regierung Rutte nur über 32 der 75 Sitze.

Corona-"Maßnahmengegner" Engel in Siegerpose. Sie sollte ihm schnell vergehen.
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Die niederländische Polizei hat indes versprochen, bis zu dem Urteil des Berufungsgerichts am Freitag ein gewisses Maß an Kulanz walten zu lassen und sich mit Bußgeldbescheiden zurückzuhalten. Nötig war dies am Dienstagabend jedenfalls nicht. Anders als von Corona-Zweifler Engel prognostiziert, war von Karnevalsstimmung nach dem kurzlebigen Sieg von "Viruswaarheid" auf den Straßen zwischen Maastricht und Groningen keine Spur. (Florian Niederndorfer, 17.2.2021)