Der EGMR gab einem türkischen Anwalt recht. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

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Am 6. April 2016 nahm die türkische Polizei Ramazan Demir in Untersuchungshaft. Die Strafverfolgungsbehörden warfen ihm vor, Propaganda für eine terroristische Organisation verbreitet zu haben. Wenige Tage nach der Festnahme bat Demir die Gefängnisleitung darum, auf die Internetseiten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des türkischen Verfassungsgerichts zugreifen zu dürfen. Der Untersuchungshäftling, selbst Anwalt, wollte die Fälle seiner Mandanten im Blick behalten und seine eigene Verteidigung vorbereiten. Die Behörden verweigerten ihm allerdings den Zugriff.

Demir ging den Weg über die Instanzen, letztendlich wurde sein Antrag auch vom türkischen Verfassungsgericht abgelehnt. Am 14. Juli 2017 richtete er deshalb eine Beschwerde an den EGMR. Die Verweigerung der türkischen Behörden, ihm den Zugriff auf die Internetseiten zu erlauben, habe seine Informationsfreiheit verletzt, so der Anwalt. In seinem Urteil vom 9.2.2021 (EGMR, 9.2.2021, 68550/17) gab das Höchstgericht Demir recht – eine neuerliche Rüge der Straßburger Richter für die türkische Regierung.

Kein allgemeines Recht auf Internetzugang

Der Gerichtshof räumte ein, dass eine Inhaftierung für die Gefangenen zwangsläufig mit einer Reihe von Einschränkungen der Kommunikation mit der Außenwelt verbunden sei. Artikel 10 EMRK, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, führe auch zu keiner allgemeinen Verpflichtung, jedem Häftling einen Internetzugang bereitzustellen.

Im konkreten Fall schreibt die türkische Rechtslage aber vor, dass Gefangenen im Rahmen von Schulungs- und Rehabilitationsprogrammen Zugang zum Internet gewährt werden muss. Laut EGMR erfülle der Antrag des Anwalts unabhängig von dessen beruflicher Tätigkeit unweigerlich auch die Ziele der Ausbildung und Rehabilitation. Dazu komme, dass viele Urteile und Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts und des EGMR nur online verfügbar seien.

Verletzung der Informationsfreiheit

Zwar können Häftlinge zur Verhinderung von Aufruhr oder Kriminalität von Informationen abgeschnitten werden. Warum im gegenständlichen Fall ein Zugriff auf die Website des EGMR und des Verfassungsgerichts zu einer entsprechenden Gefahr hätte führen können, sei von den türkischen Behörden aber nicht ausreichend begründet worden. Der Gerichtshof stellte daher einen Verstoß gegen die Informationsfreiheit fest und verurteilte die Türkei nicht rechtskräftig zu einem Schadenersatz von 1.500 Euro und einem Kostenersatz von 2.000 Euro.

Die türkische Regierung hat nun die Möglichkeit, innerhalb von drei Monaten an die Große Kammer des Gerichtshofs zu berufen. Fünf Monate nach seiner Festnahme im Jahr 2016 wurde Ramazan Demir übrigens wieder freigelassen: Die Vorwürfe gegen den Anwalt erwiesen sich als haltlos. (japf, 19.2.2021)