Seit die Fitnessstudios geschlossen haben, spulen Emmanuel und Dominik ihr Workout an den Outdoor-Geräten ab.
Foto: Regine Hendrich

Ausgerechnet laute Drum-'n'-Bass-Beats aus Bluetooth-Boxen sollen für Entspannung sorgen, indem sie den Umgebungslärm übertönen. 15 junge Männer trainieren auf dem schmalen Streifen, der zwischen der U-Bahn-Trasse und dem Fuß- und Radweg am Westufer des Donaukanals mit Rindenmulch ausgelegt ist. Von oben lärmt der Verkehr der Rossauer Lände. An der Seite donnert alle paar Minuten die U4 vorbei. Die Musik treibt die Motivation beim Street-Workout und bildet einen unsichtbaren Schutzschirm um die kleine Welt der Sportler.

Emmanuel und Dominik trainieren gerade an der Sprossenwand. Emmanuel gibt den Ton an. Er gibt seinem Spezi Dominik Tipps, wie der mit dem mitgebrachten elastischen Zugband umgehen soll. Dominik zieht die Arme ruckartig, aber kontrolliert zu seinen Hüften, dann gibt er der Spannung langsam wieder nach.

Die beiden haben sich auf dem Basketball-Court nur wenige Meter flussabwärts kennengelernt. Emmanuel stammt aus Polen und spricht vier Sprachen, nach Wien ist er gekommen, um Deutsch zu seiner fünften zu machen. Aktuell hängt er in den Seilen, sein Deutschkurs ist ausgesetzt, er muss warten, bis er wieder losgeht. Mit Dominik unterhält er sich auf Englisch. Der hat Wurzeln im kroatischen Zadar. Er arbeitet bei den Wiener Linien, er fährt U-Bahn, genauer gesagt fährt die U-Bahn wegen ihm. Aber nicht die U4, die er bei seiner nächsten Übung, den Tricep-Dips, in seinem Rücken hört, sondern die U6.

Übung für den Trizeps – die U4 kann Dominik zwar nicht sehen, aber spüren.
Foto: Regine Hendrich

Baby an Bord

In ihrer Nähe machen zwei etwas ältere Athleten derweil einen Klimmzug nach dem anderen. In der Pause zwischen zwei Sätzen schaut einer kurz zum Kinderwagen auf der gegenüberliegenden Seite des Gehwegs. Er hat sein Kleinkind mitgenommen, es schläft, während sein Vater pumpt. Normalerweise wär er jetzt im Crossfit-Studio. Aber das ist seit vergangenem März geschlossen und bleibt es mindestens bis Ostern. Eine Alternative fürs Workout fanden sie am Donaukanal.

Noch einmal schütteln die beiden ihre Arme aus, ziehen sich an der Stange hoch, machen diese ruckartige Vorwärtsbewegung mit dem Kopf, die als Bestätigung für einen geschafften Klimmzug steht, dann ziehen sie sich mit dem Kinderwagen unter den Siemens-Nixdorf-Steg zurück, wo sie ein paar Kniebeugen und Rumpfübungen machen. Es sieht nach einem gut eingeübten Ritual aus.

Die Turner am Donaukanal betreiben Calisthenics. Der Begriff kommt aus dem Griechischen und heißt übersetzt so etwas wie die "gute Kraft". "Dabei geht es um Training mit dem eigenen Körpergewicht", sagt Achim Gölles. Er ist zweifacher österreichischer Staatsmeister, Teilnehmer an Calisthenics-Weltmeisterschaften und bietet Trainingskurse an: "Calisthenics vereint Kraftsport mit Akrobatik." Wenn der Lehramtsstudent für Biologie, Sport und Religion einige Tage keine Bewegung macht, merkt er, dass es ihm an etwas fehlt im Leben. Deshalb geht er mehrmals pro Woche in den Park oder an den Kanal, um sich fit zu halten und Energie loszuwerden.

Einarmiger Handstand

Die MA 42 betreut im gesamten Wiener Stadtgebiet 95 Parkanlagen, in denen es nicht nur Spielplätze für Kinder oder Parkbänke, sondern auch Fitnessgeräte gibt. In 54 dieser Parks stehen Calisthenics-Geräte, darunter etwa Sprossenwände, Barren und Recks. Am Donaukanal finden sich insgesamt rund 50 Trainingsgeräte an zwei Standorten, die beide am Westufer zwischen Rossauer und Friedensbrücke liegen. "Der Kreativität sind beim Training keine Grenzen gesetzt", beschreibt Gölles die Faszination von Calisthenics. So gut wie alle Übungen lassen sich durch eine minimale Veränderung der Hebel und Griffe erleichtern oder erschweren. Als Beispiel nennt Gölles ein typisches Problem aus dem Alltag: Falls einem der Handstand zu fad wird, könnte man ihn ja auch einarmig probieren.

Lohnt es sich denn auch für Anfänger, am Donaukanal zu sporteln? "Es ist für jeden etwas dabei. Die Bandbreite ist nahezu unendlich", meint Gölles. Und: Niemand muss sich überfordert fühlen. Will man etwa einen Klimmzug erlernen, dann rät er zunächst dazu, sich einfach an eine Stange zu hängen und baumeln zu lassen. Schon das stärke die Muskulatur. Nach einiger Zeit könnte man die Füße baumeln lassen, Gölles nennt es "rudern", und sich so schrittweise steigern.

Emmanuel gibt Dominik Tipps.
Foto: Regine Hendrich

Zwei Stunden pumpen

Emmanuel und Dominik haben derweil Station gewechselt. Sie stehen jetzt an den Barren. Die Blicke zueinander gerichtet machen sie klassische Dips: Links und rechts greifen sie an den Barren, strecken die Arme durch und beugen dann den Ellbogen, bis er einen 90-Grad-Winkel ergibt. Anschließend drücken sie sich wieder nach oben – wenn sie noch können. Früher sind sie gerne ins Fitnesscenter gegangen, nun treffen sie sich regelmäßig im Freien für ihr Workout. Und das ist zeitintensiv: Unter einer Stunde und 40 Minuten geht gar nix, sagt Dominik. "Meistens trainieren wir zwei Stunden", sagt Emmanuel. Sie wohnen beide in der Nähe, es ist auch eine Möglichkeit, während des Lockdowns einen sozialen Kontakt zu pflegen. "Wir sind nicht leichtsinnig", betont Dominik. "Wir nehmen Corona sehr ernst. Im Freien sind wir relativ sicher. Und wir halten uns fit."

Trainer Gölles beschreibt die Calisthenics-Szene als hilfsbereit, der Umgang ist ein freundschaftlicher. "Jeder Park hat eine lokale Community. Man lernt sich schnell kennen und tauscht sich aus", sagt er. Was für Anfänger gilt, ist auch bei Fortgeschrittenen der Fall: "Ich lasse mich von den Übungen der anderen inspirieren und inspiriere vermutlich auch andere." Für Einsteiger gebe es viele Videos im Internet, die den Start erleichtern. Gölles’ Rat zur Vermeidung von Verletzungen: "Hausverstand benutzen."

Christian trainiert für Mixed Martial Arts.
Foto: Regine Hendrich
Am Donaukanal ist der angehende Mechatroniker der Herr der Ringe.
Foto: Regine Hendrich

Akrobatik durch Technik

Über Youtube-Videos ist auch Christian zu Calesthenics gekommen. Der 26-Jährige fällt bei der Parkanlage am Donaukanal auf, weil er Turnringe aufgezogen hat. Er trainiert alleine, so wie alle Solo-Turner zieht er mit Kopfhörern auf den Ohren sein Programm durch. Die Ringe haben den Vorteil, erklärt Christian, dass sie beweglich sind. Der Barren ist fix, ihm fehlt es dort an Flexibilität. Christian hat etwa gerne andere Winkel beim Handgriff, um seine Übungen durchzuführen. "Das sind Kleinigkeiten, aber es gibt mir ein besseres Gefühl", sagt er. Seine Ausführungen klingen technisch. Macht Sinn: Er studiert Mechatronik an einer Fachhochschule.

Er greift die Ringe, bringt die Beine nach oben und den Kopf nach unten und bildet zunächst ein gekipptes L. Dann bringt er sich in die Waagrechte, in der kompletten Körperspannung bleibt er für einige Sekunden. Eigentlich betreibt Christian Kampfsport, zuletzt vermehrt Mixed Martial Arts. "Die Abwechslung macht’s interessant", sagt er und setzt seine Kopfhörer wieder auf. Noch eine Frage: Läuft Drum ’n’ Bass? "Alles Mögliche. Ich höre Metal, aber auch ruhigere Lieder. Es muss Musik sein, die mir gefällt." (Lukas Zahrer, 18.2.2021)