Unter einer Brücke in Frankfurt am Main erinnert ein Wandgemälde an die Opfer von Hanau.

Foto: AFP / Armando Babani

"Wir trauern und erinnern uns" – so steht es auf der Website der Initiative "19. Februar Hanau". Niemals sollen die Namen derer vergessen werden, die am 19. Februar 2020 vom 43-jährigen Deutschen Tobias R. erschossen wurden: Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin.

Doch die Erinnerung ist nicht der einzige Grund, warum es diese Initiative und diese Seite gibt. Die Hinterbliebenen der Getöteten haben noch eine weitere Botschaft: "Wir klagen an!" Sie wollen genau wissen, was damals passiert ist, warum ihre Verwandten haben sterben müssen.

Angst vor weiteren Anschlägen

"Als die Politiker wegen Halle im Oktober 2019 (Anschlag auf die dortige Synagoge, Anm.) nach außen hin einmal mehr versprachen, alles Erdenkliche zu tun, um solche Taten zu verhindern, war das Hanauer Attentat bereits in Vorbereitung. Und womöglich wussten es einige Behörden und haben nicht eingegriffen und es laufen lassen. Jetzt dasselbe: Alle sagen, dass sich Hanau nicht wiederholen darf, aber es gibt keine Konsequenzen, sodass es mehr als wahrscheinlich ist, dass jetzt gerade irgendwo ein nächster rassistischer Anschlag vorbereitet wird. Behörden kriegen das wieder mit oder müssten es mitkriegen, doch wieder wird nichts unternommen. So geht es immer weiter", sagt Çetin Gültekin, der Bruder des Ermordeten Gökhan Gültekin.

Den Attentäter kann man nicht fragen, er hat nach dem Blutbad auch noch seine Mutter und dann sich selbst erschossen. Kurz vor 22 Uhr war es damals, als R. in Hanau, der 100.000-Einwohner-Stadt 20 Kilometer östlich von Frankfurt/Main, in und vor zwei Shisha-Bars neun Menschen mit Migrationshintergrund erschoss. Sie waren zwischen 21 und 44 Jahre alt.

Wirres Weltbild

Als die Polizei später die Wohnung des Sportschützen stürmte, fand sie dessen Leiche und die seiner Mutter. Kurz darauf übernahm der Generalbundesanwalt Peter Frank die Ermittlungen "aufgrund des Verdachts auf einen ausländerfeindlichen Hintergrund".

Anders als die Attentäter von Christchurch und Halle streamte R. seine Taten nicht. Aber er hinterließ eine Art Bekennerschreiben im Internet, in dem er sein wirres Weltbild schilderte – eine Mischung aus Ausländerhass, Verschwörungstheorien und Verfolgungswahn. So sei er schon als Baby von Geheimdiensten verfolgt worden, die es geschafft hätten, sich in Gehirne "einzuklinken".

Die Existenz "gewisser Volksgruppen" nannte er einen "Fehler", es müssten rund 20 – darunter Algerier, Tunesier, Türken, Iraner, Iraker, Inder und Pakistaner – "komplett vernichtet werden". Seine Meinung über Zuwanderer: "Diese Menschen sind äußerlich instinktiv abzulehnen und haben sich zudem in ihrer Historie nicht als leistungsfähig erwiesen."

Vor wenigen Tagen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrem Podcast an die Opfer erinnert und ihre Namen genannt. Sie betonte: "Ich habe es vor einem Jahr gesagt und wiederhole es voller Überzeugung heute: Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift."

Viele ungeklärte Fragen

Doch das ist den Hinterbliebenen zu wenig. Sie haben das Gefühl, dass nur schleppend ermittelt worden sei. Und sie haben Fragen: Warum hatte R. einen Waffenschein? Warum hatte die zuständige Behörde keine Kenntnisse von seinen "Strafanzeigen"? Dreimal wandte sich R. an die Behörden. 2002 rief er im Polizeipräsidium Oberfranken an, um eine "psychische Vergewaltigung anzuzeigen", da er "durch die Wand und durch die Steckdose abgehört, belauscht und gefilmt" werde. Ein Amtsarzt diagnostizierte eine "Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis". Als R. Polizisten angriff, wurde er in eine psychiatrische Klinik gebracht, am selben Tag aber "ungeheilt" entlassen.

Im November 2019, zwei Monate vor der Tat in Hanau, stellte er beim Generalbundesanwalt "Strafanzeige gegen eine unbekannte geheimdienstliche Organisation" und forderte, "dass Sie auf mich zugehen und mit mir kommunizieren".

Trotz dieser Auffälligkeiten bekam R. auch den Europäischen Feuerwaffenpass und fuhr zu Gefechtsübungen in die Slowakei. "Der Täter hat sehr viel trainiert, um am Ende unsere Kinder 'professionell' zu töten", sagt Serpil Unvar, Mutter des ermordeten Ferhat Unvar.

Notruf nicht erreichbar

Und schließlich bleibt die Frage nach dem Notruf. "Könnte Vili Viorel Păun noch leben, wenn der Notruf in der Nacht erreichbar gewesen wäre, meine Damen und Herren?", fragte die hessische SPD-Vorsitzende Nancy Faeser im Landtag. Der 22-Jährige verfolgte R. nach den ersten Schüssen, konnte aber den Polizeinotruf nicht erreichen. Schließlich wurde auch er erschossen. Überhaupt erreichten die Polizei in an diesem Abend nur wenige Notrufe. "Es ist richtig, dass die Polizeistation nur eine begrenzte Anzahl von Anrufen entgegennehmen konnte. Eine Weiterleitung von vielen gleichzeitig eintreffenden Notrufen war zum Zeitpunkt der Tatnacht nicht möglich", hat der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) mittlerweile eingeräumt.

Am Jahrestag der Tat werden Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) zum offiziellen Gedenken erwartet. Schon zuvor haben die Hinterbliebenen klargemacht: "Wir werden keine Ruhe geben." (Birgit Baumann aus Berlin, 19.2.2021)