Die Fotografin Ursula Schulz-Dornburg hat das Archiv in Sevilla fotografiert: Hier sind 300 Jahre spanischer Kolonialgeschichte archiviert.

Foto: Ursula Schulz-Dornburg / Wagenbach-Verlag

Geschichten von Unterwerfung, Macht, Kontrolle, Ausbeutung, Hoffnung und Abenteuer" liest der Historiker Martin Zimmermann aus den Fotografien von Ursula Schulz-Dornburg. Vier Stunden durfte Schulz-Dornburg 2001 im oberen Stockwerk des Archivo General de Indias in Sevilla ohne Blitz und Stativ fotografieren.

In dem Band Die Teilung der Welt. Zeugnisse der Kolonialgeschichte sind diese Fotografien, die einen Zustand zeigen, der nach der Auslagerung der Aktenbestände und Renovierung des Gebäudes nicht mehr besteht, erstmals zu sehen. Zimmermann ließ sich von ihnen anregen, sich mit den Hintergründen des Archivs und der Hybris auseinanderzusetzen, mit der zwei Königreiche einst die Welt teilten.

STANDARD: Herr Zimmermann, im Vertrag von Tordesillas teilten die Könige von Portugal und Spanien 1494 die Welt unter sich auf. Der Vertrag sowie die spanischen Dokumente zu diesem Vertrag lagern im Archivo General de Indias in Sevilla. Wie muss man sich die vorstellen?

Martin Zimmermann: Das sind rund 90 Millionen Dokumente, ein ungeheurer Aktenbestand, der einzigartig ist. Als es 1785 im Gebäude der ehemaligen Börse eingerichtet wurde, befand sich das spanische Reich bereits im Prozess des Niedergangs. Der Historiker Juan Bautista Muñoz begann damals, im Auftrag des spanischen Königs Karl III. dieses Archiv aufzubauen. Er sollte mit einem mehrbändigen Werk zur Kolonialgeschichte an die Größe Spaniens erinnern.

In Frankreich und im englischen Königreich waren Bücher mit Titeln wie The Cruelty of Spains oder The Tears of the Indios aufgetaucht. Sie enthüllten die Gräueltaten und vielen Toten, die mit den spanischen Besitzansprüchen verbunden waren. Die Zusammenführung der Quellen in einem Archiv hatte das Ziel, diese negativen Darstellungen als "schwarze Legende" zu entlarven.

STANDARD: Wenn man heute das Archiv aufsucht, bekommt man die Dokumente in die Hand?

Zimmermann: Ja, Kataloge und Verzeichnisse zur Archivordnung ermöglichen es Wissenschaftern aus aller Welt, Dokumente zu bestimmten Themen zu suchen und anzufragen. Die Fotografien von Ursula Schulz-Dornburg sind so besonders, weil sie einen Zustand wiedergeben, der heute nicht mehr existiert. Aus konservatorischen Gründen wurden die Dokumente nach der Renovierung des Archivs 2004 aus den Zedern- und Mahagoniregalen im Obergeschoß ins Erdgeschoß gebracht. Hier lagern sie jetzt in klimatisierten Stahlschränken. Die Pappkartons, die Ausstellungsbesucher zu sehen bekommen, sind bloß Attrappen.

STANDARD: Sie schreiben von der beinahe unstillbaren Gier nach Gold, die in den Archiven festgehalten ist. Wie ist die zu erklären?

Zimmermann: Die Konquistadoren versuchten, möglichst viel Gewinn aus ihren Eroberungen zu ziehen. Die Goldschätze, die auf diese Weise etwa aus dem Aztekenreich nach Europa kamen und prachtvoll ausgestellt wurden, trugen zur Legendenbildung bei. Im 16. Jahrhundert tauchten die Erzählungen vom Eldorado auf, jener imaginären Goldstadt, die in Südamerika lokalisiert wurde und erst von Alexander von Humboldt als Legende entlarvt wurde. Dass die Konquistadoren "wie hungrige Schweine" gierig nach Gold waren, beobachteten die Azteken selbst. Ihre Berichte sind in einer Geschichte festgehalten, die der Gelehrte Bernardino de Sahagún im 16. Jahrhundert über dieses Neu-Spanien verfasste. Sahagún ließ die Azteken selbst zu Wort kommen. Er verfasste Teile des Buchs in ihrer Sprache und gab ihre Sichtweise wieder.

STANDARD: Der Historiker François-Xavier Fauvelle schildert das mittelalterliche Afrika als Zentrum strahlender Kultur. Trifft das auf Südamerika ebenfalls zu?

Zimmermann: Die alten Reiche Südamerikas wie das der Maya, Inka oder das große Reich der Azteken mit seinen urbanen Strukturen waren ohne Zweifel Hochkulturen. Von den spanischen Eroberern wurden sie zerschlagen und ihre Kulturen vernichtet. Der spanische König Karl V. unternahm alles, damit die Originalnachrichten von Einheimischen keine Verbreitung in Europa fanden. Die Kultur der eroberten Völker sollte nicht bekannt werden. Und wenn man sich anschaut, mit welcher Vehemenz die katholischen Priester dafür sorgten, dass Schriften in einheimischen Sprachen vernichtet wurden, zeigt das, wie deutlich ihnen bewusst war, dass es sich um Hochkulturen handelte.

STANDARD: Der Schriftsteller Joseph Andras sieht eine Kontinuität zwischen dem Kolonialismus und dem Nationalsozialismus ...

Zimmermann: Mit Hitler, Franco, aber auch Mussolini flackerte die imperiale Politik noch einmal auf. Sie war geprägt von den späten Auseinandersetzungen der Kolonialmächte im 19. Jahrhundert. Ein Mussolini, der Ägypten erobert und sich als neuer Augustus feiert, ein Franco, der mit Hitler aushandelt, wie man die Gebiete auf der Welt neu aufteilt – das waren Schatten der Kolonialgeschichte, und die zeigen sich in den autokratischen Regimen bis heute. Denken Sie an Russland! Da flackern plötzlich Begehrlichkeiten an Ländern wieder auf, die in die Zeit des großen Imperialismus zurückreichen.

STANDARD: Inwieweit haben Spanien und Portugal ihre Kolonialgeschichte überhaupt beendet?

Zimmermann: Die postkoloniale Ära hat viele Erbschaften mitzutragen. Das britische Empire, das einst ein großes Kolonialreich war, ist davon ebenfalls betroffen. Gibraltar etwa befindet sich immer noch in britischer Hand. Die Insel Réunion an der afrikanischen Ostküste ist nach wie vor eine französische Dependance. Und Gebiete wie die Westsahara sind ein Nachschlag in den Händen dieser spanischen Kolonialmächte.

STANDARD: Eine bedeutsame Rolle beim Vertrag von Tordesillas kommt der katholischen Kirche zu.

Zimmermann: Die Bullen zur Teilung von Papst Alexander IV. werden im Archiv von Sevilla aufbewahrt. Vermutlich war es das spanische Königshaus, das die Texte entwarf. Der Papst ließ sich instrumentalisieren und unterzeichnete sie. Sie waren ein letztes Zeichen seiner Oberherrschaft. Die katholischen Priester machten sich in den kolonialen Gebieten ohne Rücksicht auf Verluste gewaltsam breit. Zugleich aber fanden sich zu Zeiten dieser brutalen Herrschaft über die Kolonialgebiete intellektuelle Mahner.

Bereits im ersten Jahr der Entdeckung der neuen Gebiete tauchten Stimmen auf, die von entsetzlichen Massakern sowie Massenselbstmorden der Einheimischen berichteten. Die berühmte Adventspredigt, die der Dominikanerpater Antonio de Montesinos 1511 in Gegenwart des Sohnes von Christoph Kolumbus auf der Insel La Española hielt, ist das erste eindrucksvolle Zeugnis kritischer Stimmen.

STANDARD: Fanden diese Stimmen eine Fortsetzung?

Zimmermann: Sie wurden auf vielfältige Weise aufgenommen. Bartolomé de Las Casas, der Mitte des 16. Jahrhunderts eine Geschichte des neuen Spanien schrieb, folgte der frühen Kritik Montesinos’. Die spanischen Gräueltaten nahmen in seiner Darstellung breiten Raum ein. Die kritischen Stimmen finden sich in der Literatur und den intellektuellen Debatten bis in die Gegenwart. Denken Sie an die Befreiungstheologie! Dichter wie Pablo Neruda oder der im März verstorbene Ernesto Cardenal gaben den Armen in den ehemaligen Kolonien eine Stimme und traten auf, um neue Kolonialherren wie etwa die USA in die Schranken zu weisen.

STANDARD: Der gegenwärtige Papst, der aus Argentinien kommt, bat bei Besuchen auf dem amerikanischen Kontinent um Vergebung für die Sünden der Kirche und die Verbrechen gegen die indigene Bevölkerung während der Eroberung. Stimmen innerhalb der Kirche meinen dennoch: keine Entschuldigung ohne Entschädigung. Wie sehen Sie das?

Zimmermann: Das ist eine schwierige Frage. Wie sollte eine Wiedergutmachung aussehen, und wer sollte sie leisten? Hinzu kommt, dass in vielen der Länder, die damals Kolonien waren, die politischen Systeme und das politische Establishment nicht besonders vertrauenswürdig sind. Forderungen nach einer Wiedergutmachung haben daher wenig moralische Durchschlagskraft. Und dennoch haben die ehemaligen Kolonialmächte die historische Pflicht, die eigene Geschichte kritisch zu beleuchten. Die Zerstörung indigener Strukturen, die Ausbeutung und der wirkmächtige Rassismus sollten thematisiert werden. Auch sollte die Politik mit den ehemaligen Kolonien anhaltend den Dialog suchen.

STANDARD: Sie stellen diese Teilung der Welt von 1494 in einen historischen Zusammenhang und blicken zurück auf die Vergangenheit. Aber wenn Sie in Richtung Zukunft schauen ...

Zimmermann: Die Teilung der Welt in ein Ihr und Wir, ein Gut und Böse zieht sich durch die Menschheitsgeschichte. Die heutige Trennung zwischen China und den USA sowie Europa und China gewinnt durch die Expansion des chinesischen Reichs zunehmend an Fahrt. Das ist auch eine Form des Kolonialismus, die mit viel Geld betrieben wird. Denken Sie etwa an das Projekt der neuen Seidenstraße! Diese neue Teilung der Welt und alle damit verbundenen Verteilungsprozesse und Frontstellungen werden uns in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen, und wir müssen darauf achten, sie nicht in kriegerische Konflikte münden zu lassen. (Ruth Renée Reif, 20.2.2021)