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"Ich vermeide es, Energie zu vergeuden", erzählt Calixto Bieito. Bereits als Jugendlicher sei er "wie eine Katze" gewesen: "entspannt, aber immer auf dem Sprung".

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In seiner Kindheit und seiner Jugend ist er für sein Leben gern gelaufen. "In Miranda de Ebro war es im Winter sehr kalt", erzählt Calixto Bieito, "so kalt wie in Wien." Er sei gerannt und gerannt und gerannt, ganz lang und ganz schnell, bis sein Gesicht rot war. "Da habe ich mich frei gefühlt."

Im Erwachsenenalter hat Calixto Bieito dann inszeniert und inszeniert und inszeniert. Schon mit Mitte zwanzig galt er Ende der 1980er-Jahre – in seiner neuen Heimatstadt Barcelona – als aufstrebender Regiestern und bekam Einladungen zu internationalen Theaterfestivals. Kollege Luc Bondy schwärmte Frank Baumbauer von einer Calderón-Inszenierung Bieitos vor, 2001 inszenierte dieser dann bei den Salzburger Festspielen.

Seine zwischen Nekrophilie und Pornografie angesiedelte Macbeth-Deutung begeisterte und verstörte das Publikum zu gleichen Teilen, doch es ging noch eindeutiger: Zwei Jahre später sollte eine Don Giovanni-Inszenierung in Hannover 3.500 Abonnenten zur Kündigung motivieren. Bieito wurde zum prominentesten Regieberserker der Nullerjahre, zur Bühnenfachkraft für Blut, Schweiß und Sperma.

Ein "Soziologe suburbaner Gewaltexzesse", wie man einst befand, oder ist Bieito doch nur ein Regisseur mit der "Ästhetik einer Müllpresse"? Fragen, die nun endlich auch in Wien erörtert werden können – anhand von Georges Bizets Blockbuster Carmen.

Lieber sterben!

Es ist eine Inszenierung, die der Spanier mit der markanten Glatze schon seit zwei Jahrzehnten auf den großen Opernbühnen der Welt zeigt: Das Verlangen nach Freiheit, das bei dem Künstler schon als Kind immanent war, es ist auch für die Zigarettendreherin aus Sevilla das Allerwichtigste. Der eigene Wille als oberstes Gesetz! Tatsächlich lieber sterben als klein beigeben! Ist es eigentlich das, was Bieito an der selbstbestimmten Opernfigur seit Jahrzehnten fasziniert?

Er sei in Miranda de Ebro in eine Schule gegangen, die von Jesuiten geleitet wurde, erzählt der Regisseur verschnupft im unterkühlten Konferenzzimmer der Staatsoper. "So wie Luis Buñuel. Unser Humor ist ähnlich, das führe ich darauf zurück. Man hat damals gesagt, dass aus den Schülern der Jesuiten entweder Priester, Politiker und Technokraten werden – oder Freigeister. Ich bin ein Freigeist geworden."

An ebendieser Schule sei er auch von einem Lehrer missbraucht worden, im Alter von zehn oder elf Jahren. "Er war eigentlich ein netter Mensch, aber sehr schmutzig. Er hat mich versucht zu küssen – und einiges mehr. Ich habe mich gewehrt und bin weggerannt." Auch so eine Art wehrhafter, selbstbestimmter Carmen-Moment – in seinem eigenen Leben? "Ja."

Als der heute 57-Jährige Bizets Oper vor über zwei Jahrzehnten erstmals in Szene gesetzt hat, ist er zur Vorbereitung auf eine längere Reise nach Marokko gefahren. Warum nach Afrika? Es sei ihm von Anfang an klar gewesen, dass das Sevilla von heute nichts mehr mit dem Stück zu tun habe.

Fündig geworden

Also ist Bieito Mitte der 1990er-Jahre nach Fez gefahren und nach Tanger, in die Berge Marokkos und in die Wüste. In Ceuta, einer spanischen Exklave in Nordafrika, ist er dann tatsächlich fündig geworden. In Carmen drehe sich, so Bieito, alles um Grenzen, um die Überwindung von mentalen und physischen Grenzen. Und in Ceuta hätte er diese Grenze nun ganz real vor seinen Augen gehabt.

Calixto Bieito beantwortet die ihm gestellten Fragen auf eine ruhige Weise, der in Basel lebende Vater zweier Söhne im Teenageralter spricht leise, fast etwas monoton. Und auf welche Weise inszeniert er? Er sei in seiner künstlerischen Arbeit immer sehr fokussiert, meint der Autor, Regisseur und Filmemacher. "Ich vermeide es, Energie zu vergeuden." Schon als Jugendlicher sei er "wie eine Katze" gewesen: "entspannt, aber immer auf dem Sprung".

Die Wien-Premiere seiner weltläufigen Inszenierung (mit Anita Rachvelishvili als Carmen, Piotr Beczała als Don José, Erwin Schrott als Escamillo und Dirigent Andrés Orozco-Estrada) musste wegen einiger Covid-Fälle an der Wiener Staatsoper verschoben werden. Nun findet sie am 21. Februar "nur" vor den Fernsehkameras statt (Live-Übertragung ab 20.15 Uhr auf ORF III). Schwierig? "Natürlich leben wir in Zeiten, die noch nie da waren", meint der Regisseur lapidar. "Aber als man Berlin bombardiert hat, hat Wilhelm Furtwängler trotzdem Konzerte für 200 Menschen dirigiert, in bitterer Kälte", meint Bieito in einem fragwürdigen Vergleich.

Nun, ja. Es sei jedenfalls wichtig, dass man immer weitermache. "Wenn ich morgens aufwache und an diesem Tag eine Probe habe, bin ich glücklich."

Viel gearbeitet

Er sei auch froh, dass er im letzten Jahr trotz der Veranstaltungsverbote relativ viel hätte arbeiten können. Und auch die vielgescholtenen Streamings sieht Bieito durchwegs positiv: Man könne so Menschen erreichen und für Kultur interessieren, die man sonst nicht erreicht hätte. "Ich habe in Salamanca und Bilbao in Gegenden mit ärmerer Bevölkerung Bildschirme im öffentlichen Raum bespielt – mit einem Ligeti-Konzert!"

Wie hätte Carmen, die große Freiheitsliebende, seiner Meinung nach auf die lang anhaltenden Restriktionen reagiert? Bieito schmunzelt und zuckt mit den Schultern. "Wir wissen es nicht." Er zumindest würde immer alle Anweisungen für das Reisen und die Proben befolgen. "Der einzige Weg, wie wir diese Pandemie überwinden können, ist wohl durch Zusammenarbeit und durch Vertrauen." (Stefan Ender, 19.2.2021)