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Der Topos des kämpferisch-stolzen Tirolers entstammt der deutschen und britischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Das Fremdbild wurde Teil der Identität. Doch es ist aus der Zeit gefallen, wie sich gerade im Umgang mit der Corona-Krise gezeigt hat.

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Neben tausenden Toten, einer devastierten Wirtschaft und schweren psychologischen Schäden hat das Coronavirus in Österreich ein weiteres Opfer zu verzeichnen: das Erfolgsimage jenes Bundeslands, das von der Pandemie vor einem Jahr als erstes heimgesucht wurde und auch jetzt wieder im Rampenlicht steht.

Es lief in Tirol von Anfang an nicht gut. Als am 25. Februar 2020 die beiden ersten Corona-Fälle Österreichs unter Angestellten eines Innsbrucker Hotels entdeckt wurden, machte die ZiB 1 eine Liveschaltung. Während der Reporter dem TV-Publikum erklärte, dass das Gebäude unter strikter Quarantäne – damals noch ein dramatisch-exotischer Begriff – stehe, sah man, wie im Hintergrund ein Mann unbehelligt die Lobby verließ. Das Bild von Tirol als Corona-Opfer war geboren – und jenes als Corona-Sünder.

Zum ersten Mal AMS

Es folgte eine pandemische Pannenserie, die von Ischgl ausgehend die stolzen Tiroler Adler in gehörige Turbulenzen brachte. Seit der Tourismus das Land wirtschaftlich zum Dauerhöhenflug ansetzen ließ, ist die Vollbeschäftigung in Tirol weit mehr als nur ein Lippenbekenntnis.

Heuer schaut die Sache anders aus – brutal anders: Auf 41.239 Arbeitslose kamen Anfang Februar nur 3.309 offene Stellen. Die Veränderung in den Arbeitslosenzahlen gegenüber dem Jänner des Vorjahres liegt in den Bezirken der Tourismushochburgen zwischen unglaublichen 200 und 445 Prozent.

Viele Tirolerinnen und Tiroler stehen zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem AMS in Kontakt, während die Verantwortlichen für das Pandemie-Management-Desaster aus dem Frühjahr nicht geschasst, sondern teilweise sogar befördert wurden. Das nagt. Am Selbstvertrauen und am Stolz der fleißigen Bevölkerung, die sich immerhin alles mit den eigenen Händen aufgebaut hat – abgeschundene Gastarbeiterhände sind hier, wenn überhaupt, nur mitgemeint.

Beißreflex

Anstatt mit sozialpolitischen Maßnahmen auf die Krise zu reagieren, schafft die Landespolitik Feindbilder. Die Fleißigen brauchen schließlich keine "soziale Hängematte". "Wir" Tiroler gegen "die" Nichttiroler. Fast schon mantraartig wurde von Verantwortlichen zugleich immer wieder klargestellt, was nie zur Debatte stand: "Das Virus wurde nicht in Ischgl geboren." Der Tiroler kränkelt schließlich nicht. Von Selbstkritik keine Spur.

Diesen Reflex erklärt die Volkskundlerin und Philosophin Elsbeth Wallnöfer mit dem verklärten Geschichtsbild, das im Land des nicht minder verklärten Volkshelden Andreas Hofer tradiert wird: "Der Topos des Tirolers entspringt einem literarischen Mythos, den Deutsche und Briten im 19. Jahrhundert geschaffen haben."

Im Gegensatz zu Südtirol verfallen Nordtirols Politvertreter gern in längst überholte Rollen, erklärt die Forscherin: "Wenn Bozener Politiker in Rom auftreten, dann tun sie das mit Anzug und Aktenkoffer. Die machen keinen auf Alpenclown."

Keine Spur von Einsicht

Tirols Landespolitiker haben das Land "weltweit zur Lachnummer" gemacht, kritisiert Wallnöfer. Indem sie ihr Land im Stile eines Volksschauspiels regieren, schaden sie ihm und tun ihm unrecht. "Denn Tirol ist in Wahrheit moderner", ist Wallnöfer überzeugt.

Fremd- und Selbstbild divergieren auch in Pandemiezeiten gehörig. Nachdem tausende Touristen im Frühjahr 2020 das Coronavirus als Souvenir aus dem Skiurlaub mit nach Hause gebracht haben, wurde Tirol zur "Virenschleuder Europas" erklärt. Im Land selbst erachtet man diese Kritik als unfaires "Bashing".

Ein Jahr später, Tirol steht als Hotspot der neuen Südafrika-Mutante wieder isoliert da, ist von Einsicht bei den politisch Verantwortlichen weiter keine Spur. Im Gegenteil, man geht offen auf Konfrontationskurs zu Wien, zu Deutschland, ja zur ganzen bösen Welt da draußen. Nur in Tirol ist diese offenbar noch in Ordnung. Doch wer die Ruhe genießen will, muss im Land der engen Täler und steilen Berge Letztere emporkraxeln – dorthin, wo die Transit-Lkws und die Touristenautos nicht hinkommen.

Kerngesund, weil sportlich

Daraus entwickelte sich ein Selbstverständnis, das den Tiroler und die Tirolerin als kerngesund und sportlich definiert. Als Kinder in der Schule werden Skitage verglichen, als junge Erwachsene Gipfelkreuze fürs Instagram-Album gesammelt, während die Generation 40+ Hüttenbesuche mit E-Bike oder Wanderschuhen fleißig auf Facebook und in Whatsapp-Storys postet.

Als im Frühjahr ausgerechnet der vermeintlich gesundeste und sportlichste Teil Österreichs als Erstes von einer tückischen Krankheit heimgesucht wurde und die Menschen spät, aber doch zu schärfsten Einschränkungen in Sachen Bewegungsfreiheit gezwungen wurden, waren der Schock und das Unverständnis groß. Damals kannte jeder jemanden, der wegen Spazierens ins Nachbardorf oder einer Mountainbike-Runde gestraft wurde, aber viele keinen Corona-Infizierten.

Der Sommer 2020 ließ das gebeutelte Land kurz aufatmen. Man konnte sich wieder ungehindert in der Natur bewegen und zum Gardasee fahren. Die Gäste kamen wieder, die Tiroler Welt schien wieder in Ordnung. Bis im Herbst die zweite Corona-Welle anrollte, Schulen, Gastronomie und Handel erneut schließen mussten.

In einem Kraftakt verhinderte die Landespolitik, dass auch noch die Skilifte der Verordnungswut des grünen Gesundheitsministers zum Opfer fielen. So setzt man Prioritäten in Tirol, wie auch Philosophin Wallnöfer bestätigt: "Tirols Partikularinteressen werden von Menschen vertreten, die nur eine einzige Branche vertreten. Dabei macht dieses Land viel mehr aus als nur Tourismus und Seilbahnen."

Gegen die Wissenschaft

Für die Südtiroler Wissenschafterin ist der nördliche Nachbar ein Fall für die Psychoanalyse: "Hier wurden Fremdbilder offenbar derart internalisiert, dass die Unterscheidung zwischen Rolle und Realität vielen schwerfällt." Sie meint damit die Landespolitik und Tirols VP-Nationalräte, denen sie teils "große menschliche Defizite und schlechten Stil" vorwirft. Die Attacken gegen die Virologin Dorothee van Laer, die Tirols Politik jüngst für ihre Untätigkeit angesichts der Ausbreitung der südafrikanischen Virusmutante kritisierte und zur Vorsicht mahnte, würden sinnbildlich dafür stehen.

Anstatt sich auf die Seite der Wissenschaft und der Ratio zu stellen, bildeten provinzielle Polterer die Speerspitze der Angreifer. Ganz in der Tradition des antiaufklärerischen Landespatrons Hofer.

Doch anders als damals verfassen Deutsche und Briten diesmal keine Heldenepen über die wehrhaften Tiroler. Ganz im Gegenteil. (Steffen Arora, Fabian Sommavilla, 21.2.2021)