Michel Barnier punktet in Frankreich als "Kulissenmann" ganz ohne große Selbstinszenierung. Schwung hat er zuletzt dennoch bewiesen.

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Die Gegenwart ist bedrohlich, die Zukunft unsicher. Da kann es nicht erstaunen: Politisch zählen wieder Erfahrung, Besonnenheit und Maßhalten. Sonst wäre Joe Biden wohl nicht US-Präsident geworden oder Mario Draghi nicht Ministerpräsident Italiens.

Für Frankreich heißt das: Schlägt jetzt auch die Stunde Michel Barniers? Der im Jänner 70 gewordene Franzose, der seit 48 Jahren politische Mandate ausübt, glaubt nicht nur daran, er arbeitet auch daran – so zielstrebig und eisern, aber auch so diskret, wie er den britischen EU-Austritt über die Bühne gebracht hat.

Zu Neujahr, als er den Brexit erfolgreich finalisiert hatte, twitterte er zu einem Bild, das ein paar Bergsteiger auf dem Weg zum verschneiten Gipfel zeigte: "Wo ein Wille, ist auch ein Weg!" Ein Schlaumeier vervollständigte: "... in den Élysée-Palast." Barnier, der aus den Alpen Savoyens stammt, wo er 1992 mit dem Skiass Jean-Claude Killy die Olympischen Winterspiele von Albertville organisiert hatte, schwieg. Dafür berichten Insider, er miete in Paris ein Großraumbüro und gründe eine Mikropartei für Wahlkampfspenden. Ende Jänner erklärte Barnier sodann auf eine Journalistenfrage: "Solange ich meine Energie und meine Fähigkeit zur Begeisterung und zur Entrüstung wahre, möchte ich meinem Land gerne nützlich bleiben."

Außenseiter in Paris

Dem Land nützlich sein: Diese Chiffre ist in Paris gleichbedeutend mit der Bereitschaft, für jenes Amt zu kandidieren, um das sich die ganze französische Politik dreht: das des Staatschefs.

Für April plant Barnier ein Memoirenbuch zu den aufregenden Brexit-Monaten. Genau das Richtige, um seine zentrale Rolle, seine hartnäckige Detailarbeit und seine erfolgreiche Strategie herauszustreichen. Das lässt noch Zeit und Raum für ein weiteres Buch zu innerfranzösischen Fragen: Die Präsidentschaftswahl findet erst ein Jahr später statt.

Der präzis gestaffelte Anlauf des hochgewachsenen Savoyers sucht die aktuellen, teils sehr gegensätzlichen Tendenzen der französischen Politik zu berücksichtigen. Barnier weiß, dass er in seiner eigenen, völlig auf Paris fixierten Partei Les Républicains (LR) fast ein Außenseiter geblieben ist – der Savoyer aus den Bergen eben. Mit seinem gemäßigten Mitte-rechts-Ansatz, der gut in eine CDU passen würde, könnte er zwar die Partei einen und für sie einige Macron-Wähler zurückholen. Auch blickt er auf eine imposante Trophäenliste an Regierungsposten zurück, war er doch seit 1993 Umweltminister, Europaminister, Außenminister und Agrarminister.

Seine folgenden Mandate in Brüssel als Kommissar und Sonderfunktionär galten in Paris aber schon fast als Karriereausklang. Auch ist Barnier alles andere als ein mitreißender Wahlkämpfer. Für den Pariser Politzirkus ist er zu steif, zu sehr Gentleman. "Er ist nicht populär", meinen Stimmen aus seiner eigenen Partei, oder noch vernichtender: "Er ist nicht lustig."

Kein "natürlicher" Kandidat

Die Republikaner sind überzeugt, dass ihnen die zwei letzten Präsidentschaftswahlen von 2012 (mit Nicolas Sarkozy) und 2017 (François Fillon) "gestohlen" worden sind, und wollen 2022 endlich wieder ins Élysée zurückkehren. Bloß fehlt ihnen ein "natürlicher" Kandidat, einer, der sich von selbst aufdrängt und das Élysée im Handstreich nimmt. Die parteiinternen Favoriten Xavier Bertrand oder Valérie Pécresse wecken indes, gelinde gesagt, wenig Begeisterung.

Also doch Barnier? Pariser Auguren sprechen bereits von einem "Biden-Moment", das heißt dem ruhigen Sieg eines abgeklärten Kulissenmannes über einen schillernden Medienstar. Der Kontrast springt ins Auge: hier ein Michel Barnier, der sogar mit den schwierigen Briten zurande kam, da ein Emmanuel Macron, der das Duell mit Marine Le Pen oder Jean-Luc Mélenchon geradezu sucht.

Dabei hat Barnier mit Macron selbst eine Rechnung offen: Der Präsident wollte seine Anwartschaft auf den Posten des EU-Kommissionspräsidenten nie unterstützen. Eine kleine Revanche ist dem trockenen Savoyer schon gelungen: In einer ersten Umfrage hat er auf Anhieb 27 Prozent positive Stimmen erhalten, mehr, als Macron mit 24 Prozent oder Le Pen mit 21 im ersten Präsidentschaftswahlgang von 2017 erzielten.

Noch ist der Weg zum Gipfel für Barnier weit. Wer in Brüssel zu verhandeln versteht, bringt noch nicht unbedingt das Charisma mit, das in Paris Wahlkämpfe entscheidet. Aber vielleicht wollen die Franzosen gar keinen flamboyanten Selbstinszenierer mehr im Élysée. Sie wollen nur einen, der sie aus dem Schlamassel führt. (Stefan Brändle aus Paris, 22.2.2021)