Am 10. Dezember 1800 hat Jean de Carro in Brunn am Gebirge die erste Massenimpfung in Kontinentaleuropa durchgeführt. Sein Kollege Pascal Joseph Ferro zählte damals zu den treibenden Kräften einer Reform des Gesundheitswesens und war in Wien wohl einer der prominentesten Ärzte. Als er gesehen hatte, dass sich die Publikationen Jenners als zuverlässig erwiesen, warf Ferro das Gewicht seiner Funktion in die Waagschale. Gemeinsam mit de Carro unternahm er 1801 an der Klinik von Johann Peter Frank im Allgemeinen Krankenhaus in Wien in Gegenwart vieler Ärzte einen großen Impfversuch, bei dem 26 Kinder "mit Kuhpockenstoff eingeimpfet worden" sind. 1802 verfasste er eine wichtige populäre Schrift "Über den Nutzen der Kuhpocken-Impfung", mit der die Vorteile der neuen Methode propagiert werden sollten.

Das Spiel mit dem "sanften Druck"

In Österreich erfreute sich die Kuhpockenimpfung einer enormen Konjunktur – zumindest in den Kreisen der Sanitätsverwaltung. Die Maßnahmen, die man ergriff, waren massiv. 1807 wurde eine Verordnung erlassen, mit der alle Kinder, die noch nicht "geblattert" hatten, im Mai und Juni eines jeden Jahres zu vakzinieren seien. 1812 wurden erste Zwangsmaßnahmen angeordnet. Mit echt (nach)josephinischer Rigorosität wurde verfügt, dass an Blattern verstorbene Kinder zwar vom Priester eingesegnet werden, aber weder von ihm noch von ihren Eltern zur Begräbnisstätte begleitet werden dürften. An Häusern, in denen sich blatternkranke Kinder aufgehalten haben, sollten Tafeln mit entsprechenden Hinweisen angebracht werden. In "Schauenstein’s Handbuch der öffentlichen Gesundheitspflege in Österreich", einem frühen gesundheitspolitischen Standardwerk, wurde das Engagement der Behörden 50 Jahre später fast mit Verwunderung kommentiert. Es werde "eine hygienische Maßregel mit einem in anderen Gebieten der Gesundheitspflege ganz unerhörten Eifer durchzuführen gesucht, und die Verbreitung der Vakzination mit einem Fanatismus angestrebt, wie er sich sonst nur in religiösen und politischen Fragen zu entwickeln pflegt". Schauenstein sah sich 1863 immer noch genötigt festzuhalten, dass der Wert der Impfung "nüchtern zu prüfen" sei.

"Volksschriften" waren die eine Waffe im Kampf um die Köpfe der Menschen und die Anerkennung der Kuhpockenimpfung. Sie wurden massiv verbreitet. In Tirol und Salzburg wurden tausende Exemplare von Aufklärungsschriften verteilt. Das wäre gerade in Salzburg kaum möglich gewesen, wäre nicht auch die Kirche hinter der Impfpraxis gestanden. Religiöse Dimensionen hatten in der Auseinandersetzung um die Frage der Impfung im 18. Jahrhundert immer wieder eine bedeutende Rolle gespielt. Wo sich die katholische Kirche in ihrem Deutungsmonopol bedroht sah, gab es kein Pardon. In Spanien wurde der Druck einer Schrift für die Blatternimpfung verboten, weil der Verfasser einen protestantischen Arzt als "Medicorum princeps" bezeichnet hatte.

In Österreich war die Lage zum Ende des 18. Jahrhunderts eine andere geworden. Religiöse Fragen waren im streng katholischen Hause Habsburg nach wie vor bedeutend, doch die Kirche stand unter starkem Einfluss des Kaiserhauses; die einst mächtigen Jesuiten waren von einem Arzt, dem Reformer van Swieten, vom Hofe verdrängt worden. Wer das Ohr des Kaisers und seiner obersten Autoritäten hatte, dem konnte sich auch die Kirche nicht widersetzen. Der Vatikan hatte sich unter Clemens XIII. bereits für die Impfung ausgesprochen. Ab 1802 setzten staatliche Autoritäten mit aller Wucht auf die Einführung der Kuhpockenimpfung. Nachdem man die Einimpfung der Menschenblattern 1802 weitgehend und 1803 ausdrücklich verboten hatte, wurde die Einführung der Kuhpockenimpfung nicht nur durch Anweisungen an die Physikate, sondern auch unter Nutzung der kirchlichen Institutionen propagiert.

Die katholische Kirche spielte eine signifikante Rolle in der Verbreitung der Impfung.
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Propaganda von der Kanzel

Schon 1802 warfen sich auch Priester für die Kuhpockenimpfung ins Zeug. Die Impfung wurde nachgerade zur religiösen Notwendigkeit erklärt. Ein Pfarrer aus dem niederösterreichischen Waldviertel predigte: "So ist es wohl unnöthig, erst beweisen zu wollen, daß es Pflicht, daß es eine Gewissenssache sey, in einer so gefährlichen, so allgemeinen Krankheit, wie die Blattern sind, die nöthigen Heilmittel anzuwenden. Ich sage nur: Die Kuhpocke ist ein solches, durch vieljährige Erfahrung geprüftes Mittel. Dasselbe ist sicher, unschädlich und leicht anwendbar." Auch auf das Argument, die Impfung sei ein Verstoß gegen die göttliche Vorsehung, ging die Predigt ein und bemühte den Jesus Sirach (38,6): "Nach dem Zeugnisse des göttlichen Geistes sollen die Menschen hieraus in die Erkenntnis der göttlichen Macht kommen, den Höchsten in Seinen verwunderlichen Geschöpfen ehren, dessentwegen hat er ihnen diese Wissenschaft mitgetheilet."

Adressiert werden musste auch die Übertragung einer tierischen Krankheit, die offenbar manchen als falsch erschien. Auch hierauf ging der Prediger ein und sah darin kein Problem. Manche würden zwar meinen, dass diese Übertragung ein Problem darstelle, "doch ich denke: wenn uns das Fleisch und die Milch von eben diesem nützlichen Hausthiere bis an den heutigen Tag keinen Schaden gebracht hat; so werden wir auch von den Pocken desselben nichts zu fürchten haben". De Haens Frage und seine Antwort wurde nun in klerikaler Dialektik just ins Gegenteil abgewandelt: "Bedenket: daß ihr euch des schändlichsten Undankes gegen den gütigsten Schöpfer der Menschen selbst schuldig machet; wenn ihr ein Heilmittel, das augenscheinlich von Ihm, dem Geber aller Freuden kömmt, ohne Prüfung verwerfen wollet." Hier kommt die Impfung von Gott; sie widerspricht nicht seinem Willen, sondern erfüllt ihn.

Das Erbe des Josephinismus

Die Religion wurde in den österreichischen Erblanden der späten Aufklärung unter dem Druck des Staates zur Waffe im Kampf um die Köpfe der Menschen. Den Pfarrern wurde im Rahmen der Pfarrorganisation eine große administrative Aufgabe zugeteilt. Sie sollten nicht nur gewährleisten, dass ihren Pfarrkindern mindestens zwei Mal im Jahr die Impfung "von der Kanzel ans Herz" gelegt werde. Sie hatten darüber hinaus den Eltern bei jeder Taufe ein Schreiben mit den Vorteilen der Impfung auszuhändigen und mussten Register der bereits geimpften Personen führen. Im Fall der "Renitenz" von Eltern mussten sie an der Meldung der Familie an das zuständige Kreisamt mitwirken.

Predigten waren in ganz Europa eine wichtige Waffe im Kampf um die Köpfe der Menschen, wie hier in England.
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Die Macht der Kirche, als Gegenentwurf zur Wissenschaft aufzustehen, war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumindest innerhalb der nachjosephinischen Pfarrorganisation gebrochen. Sie wurde im Gegenteil zum Vollzieher des staatlichen Willens und der Erkenntnisse der akademischen Medizin. Unfreiwillig vielleicht, aber massiv. 1831 schrieb Severin Pfleger, Domherr von St. Stephan, in einer Instruktion für Pfarrer: "Ein jeder Pfarrer oder Pfarrverweser wird immer nach Verlauf von drey Monaten, mithin vier Mal im Jahre, diejenigen, welche in den verflossenen drey Monathen in seiner Pfarre etwa an den natürlichen Blattern verstorben, – mit Namen und Stand von der Kanzel ablesen, dann in einer Rede die Vortrefflichkeit der Kuhpockenimpfung zeigen [...] und es bestimmt heraussagen; dass diejenigen, deren Kinder oder Angehörigen an den Blattern sterben, weil sie die Kuhpockenimpfung vernachlässigen, vor Gott über den Tod derselben verantwortlich werden." Religiöse Argumente gegen die Impfung waren durch die erzwungene Kollaboration der kirchlichen Institutionen damit im katholischen Kontext unmöglich geworden. (Marcel Chahrour, 24.2.2021)

Fortsetzung folgt.