Christiane Druml ist die oberste Bioethikerin des Landes und berät die Regierung. Dass geimpfte Personen sich immer noch an dieselben Einschränkungen halten müssen wie andere, hält sie nicht für tragbar.

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Immer wieder wirft Christiane Druml während des Interviews mit dem STANDARD einen Blick zum Fenster. "Frieren Sie eh nicht?", fragt sie. Auch wenn alle im Raum getestet sind, bleibt das Fenster die meiste Zeit über offen.

STANDARD: Die Bioethikkommission, deren Vorsitzende Sie sind, berät die Regierung in Sachen Corona. Wie oft telefonieren Sie mit dem Kanzler oder dem Gesundheitsminister?

Druml: Den Gesundheitsminister sehe ich regelmäßig in den Taskforce-Sitzungen. Was den Kanzler betrifft, bin ich in Austausch mit seinem Kabinett.

STANDARD: Regelmäßig?

Druml: Na ja. Regelmäßig kann auch sehr selten sein.

STANDARD: Fühlen Sie sich von der Regierung ausreichend gehört? Sie haben ja zum Beispiel eine andere Priorisierungsliste vorgeschlagen, was Impfungen betrifft.

Druml: Man könnte immer noch mehr gehört werden. Wir sind aber auch eher ein wissenschaftliches Gremium, das im Hintergrund tätig ist.

STANDARD: Sie haben sich zuletzt für das "Reinimpfen" in bestimmte Bereiche ausgesprochen, zum Beispiel ins Theater. Sollte man bestimmte Bereiche für Geimpfte wieder öffnen?

Druml: Man muss differenzieren. Man kann sicher mehr Bereiche öffnen, wenn die Leute sich an die Vorgaben halten. Für Geimpfte haben wir noch wenig anzubieten, es sind ja tatsächlich erst 150.000 Personen immunisiert – eine kleine Gruppe, aber auch nicht nichts.

STANDARD: Würden Sie dafür plädieren, dass Geimpfte, Getestete und Genese rechtlich gleichgestellt werden?

Druml: All diese Maßnahmen, die in Pandemien seit Hunderten von Jahren gemacht werden – Isolierung, Quarantäne und so weiter –, all die Einschränkungen in unseren Grundrechten haben wir, damit wir einander nicht gefährden und infizieren und damit wir das Gesundheitswesen vor dem Kollaps bewahren. In dem Moment, wo der Grund dieser Einschränkungen wegfällt, nämlich die Infektiosität, müsste man allen wieder zurück zu den eigenen Grundrechten verhelfen. Also: Ja, natürlich.

STANDARD: Wir sitzen hier gerade zu dritt und sind alle getestet. Sollten wir also von Grundrechtseinschränkungen befreit sein?

Druml: Ja. Die Frage ist nur wie. Der Deutsche Ethikrat sagt, die anderen Leute würden das als ungerecht empfinden. Aber: Wenn ich Einschränkungen meiner Grundrechte habe, und dann fällt der Grund weg – wo sind wir denn, dass falsch verstandene Gerechtigkeitsideen solche Blüten treiben?

STANDARD: Wie könnte das konkret ausschauen?

Druml: Wir brauchen sicher, bis die Pandemie vorbei ist, weiter Masken, Abstandsregeln und Hygieneregeln. In der U-Bahn wissen Sie nicht, ob das Gegenüber auf eine Corona-Demonstration geht oder schon zum zweiten Mal geimpft ist. Aber darüber hinaus muss man Möglichkeiten finden, wie wir die betroffenen Rechte wieder für die Leute uneingeschränkt nutzbar machen können.

STANDARD: Welche Rechte wären das?

Druml: Dass das Privatleben weniger beeinträchtig ist, dass die Freizügigkeit weniger beeinträchtigt ist. Sicher auch die Teilhabe an der Kultur, zum Beispiel der Besuch von Theatern, aber auch der Gastronomie. Dennoch braucht man Regeln drumherum: Wie stellt man die Tische hin? Wir werden alle Familien haben, wo einer geimpft ist, der andere hatte die Krankheit, und der Dritte ist getestet. Da muss rechtlich alles klar und transparent sein.

STANDARD: Ob die Gastro oder Kultureinrichtungen aufsperren, ist ja noch einmal eine andere Frage als die Einschränkungen, die etwa private Zusammenkünfte mit anderen Personen betreffen.

Druml: Ich denke auch, dass das verschiedene Ebenen sind. Das soziale Leben sollte in irgendeiner Form wieder möglich sein. Laufend erhalten wir mehr wissenschaftliche Daten und zusehends wird immer mehr klar, dass Impfungen die Infektiosität doch deutlich verringern dürften.

STANDARD: Ein Gastrobetrieb könnte zum Beispiel sagen: Wenn du geimpft bist, darfst du zu mir kommen. Ist das okay, wenn der Markt das regelt?

Druml: Wenn private Unternehmen, zum Beispiel Fluglinien, sagen: Mit uns fliegen nur Geimpfte, dann muss das möglich sein. Was nicht sein darf, ist, dass Monopolisten – zum Beispiel die Wiener Verkehrsbetriebe – solche Regelungen aufstellen. Aber es wäre schon auch erfreulich, wenn auch der Staat seinen Bürgern gewisse Sicherheiten in dem Bereich geben würde, denn letztlich kann man privat und Staat in der Frage auch nicht wirklich trennen. Wenn man als geimpfte Person als Kontaktperson gilt, soll man dann auch in Quarantäne? Die Regierung muss hier Regelungen treffen und das wird sie bestimmt auch machen.

STANDARD: Jetzt wurde aber von der Regierung lange ausgeschlossen, dass es eine Impfpflicht oder auch nur Privilegien für Geimpfte geben wird.

Druml: Es sind keine Privilegien. Wir dürfen nicht von Sonderrechten reden. Wir haben Einschränkungen der Grundrechte, die auf Basis der Infektiosität und der Abwendung der Überlastung des Gesundheitssystems getroffen wurden. Wenn diese Gefahr weg ist, dann ist es kein Privileg, wenn wir uns mit Freunden treffen, um einen Kaffee zu trinken. Es ist die Rückkehr in die Normalität.

STANDARD: Dadurch entsteht aber schon so etwas wie eine indirekte Impfpflicht. Jetzt fühlen sich manche veräppelt. Hätte die Regierung hier nicht von Anfang an Klartext sprechen müssen?

Druml: Ich bin sehr unglücklich über diese mantraartige Betonung des "Es ist alles freiwillig." Die individuelle Freiheit funktioniert nur mit Verantwortung.

STANDARD: Es ist noch nicht ganz klar, ob eine Impfung auch vor Übertragungen schützt. Sollte man trotzdem schon Lockerungen in Heimen riskieren, in denen alle Bewohner geimpft sind?

Druml: Selbstverständlich! Heime sind ja praktisch geschlossene Systeme, da kann man kontrollieren, wer rein- und rausgeht. Da kann es auf jeden Fall Erleichterungen geben. Die Bewohner sind ja alle auch in einem Alter, wo sie nicht noch hundert Jahre darauf warten können, bis sie mit ihrer Familie wieder zusammenkommen. Ansonsten hätten wir ja eine völlig absurde Priorisierungsliste. Zuerst impfen wir und dann lassen wir die Menschen gleich eingesperrt wie zuvor? Das kann es nicht sein.

STANDARD: Es ist noch unsicher, ob alle Impfstoffe die gleiche Leistung erbringen können, was den Schutz vor Weitergabe betrifft. Sollen die Maßnahmen je nach Impfstoffleistung unterschiedlich gelockert werden?

Druml: Nein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da wirklich so ein großer Unterschied zwischen den Leistungen besteht. Letztlich ist auch die Ansteckungsmöglichkeit geringer, wenn die Virenlast gemindert ist. Die Situation ist einfach dadurch, dass wir wenig Impfstoff haben, vertrackt. Dass Leute sich da vordrängeln, find ich schon sehr unsympathisch, zumindest. Wobei ich schon denke, dass es manche Role-Models bräuchte, den Bundespräsidenten würde ich sofort einladen, öffentlich, wenn er sich gerne impfen lassen will.

STANDARD: Sind Sie dafür, dass es Konsequenzen gibt für die, die sich vordrängen, oder dafür, wenn Impfdosen weggeschmissen werden?

Druml: Ich glaube, es ist schon genug Schaden aufgetreten für die, wo es publik geworden ist. Aber was ich wünschenswert finden würde, wäre, wenn jeder wüsste, in welcher Woche oder zumindest im Zwei-Wochen-Abstand, wann er dran kommt. Die Leute brauchen Sicherheit. Egal mit wem ich rede, die Menschen haben keine Ahnung, wann sie geimpft werden.

STANDARD: Versagt die Regierung da nicht völlig?

Druml: Also in diesen Worten würde ich das vielleicht nicht ausdrücken. Aber ich hätte mir vorgestellt, dass das Impfsystem über die Krankenversicherung und zentral geregelt wird. Föderalismus ist sicher schön und gut für gewisse Dinge, aber für eine Pandemie ist ein zentrales System wünschenswert.

STANDARD: Sie reden in der Vergangenheitsform – Sie würden also der Regierung nicht anraten, die Strategie noch einmal zu ändern?

Druml: Ich glaube, das ist gelaufen.

STANDARD: Können Sie nachvollziehen, dass manche Personen sich gerne privat Impfungen kaufen möchten?

Druml: Wenn schon der Staat die Impfdosen nicht bekommt, würde in der Privatwirtschaft ein Korruptionssystem beginnen. Auch diese Impfreisen sehen nicht besonders elegant aus – hier wird Arm gegen Reich ausgespielt.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Krisenperformance der Regierung? Sind wir zu wenig geschützt worden?

Druml: Am Anfang war die Performance sehr gut und es hat auch jeder mitgetragen. Wir sind wirklich gut durch den ersten Lockdown gekommen, obwohl wir so wenig über die Krankheit wussten. Dann sind wir blauäugig in den Sommer gerutscht, wo es viel zu wenige prophylaktische Maßnahmen gegeben hat.

STANDARD: Waren die jüngsten Lockerungen angesichts der hohen Zahlen gerechtfertigt?

Druml: Natürlich waren sie in einer gewissen Weise nicht gerechtfertigt, aber in einer anderen – um die "Moral der Truppe" aufrechtzuerhalten – wiederum schon. Wenn alle Leute sich an Abstand, Masken etc. halten würden, dann wäre das alles kein Problem. Aber sie tun es halt nicht. (Vanessa Gaigg, Gabriele Scherndl, 23.2.2021)