Im Gastkommentar skizziert Martin R. Stuchtey, Professor für Ressourcenstrategie und -management an der Universität Innsbruck, eine Österreich-Agenda für die nächsten zehn Jahre in zehn Punkten.

Bild nicht mehr verfügbar.

Der Blick zum Koalitionspartner war auch schon einmal freundlicher. Ausgerechnet das Klima könnte das Klima in der Koalition verbessern.
Foto: Reuters / Leonhard Foeger

Manchmal sind innenpolitisch schwierige Lagen der optimale Zeitpunkt, um in einem Land echte Transformationen in Angriff zu nehmen. Wenn der Eindruck nicht täuscht, befindet sich Österreich aktuell genau in einem solchen Moment. Bundeskanzler Sebastian Kurz bietet sich daher die Chance, politischen Instinkt und Kompass zu beweisen. Durch einen substanziellen Befreiungsschlag könnte er sein Land national und international mit einem zukunftsorientierten Narrativ verknüpfen.

Sein Koalitionspartner, die Grünen, sehen sich momentan in ihrer Koalitionstreue gefordert. Einerseits wollen sie im Interesse der ökologischen Transformation an der Umsetzung des Regierungsprogramms festhalten, andererseits machen diverse innenpolitische Ereignisse dies zunehmend schwer. Der beste Weg für die Grünen wäre, jetzt einen politischen Preis einzufordern, der das Projekt Türkis-Grün für sie wirklich perspektivisch tragbar macht.

"Kleinere Nationen wie Österreich können ihre Agilität zu einem Wettbewerbsvorteil machen."

Sebastian Kurz wäre nicht Sebastian Kurz, wenn er nicht ein genaues Gespür dafür hätte, wie man Problemlagen zum eigenen Vorteil – und dem ganz Österreichs – wendet. Warum also nicht an seiner bekannten Manöverkritik ansetzen, die ganz Europa Systemversagen unterstellt? Warum nicht diese Europakritik konstruktiv umsetzen, indem der Bundeskanzler in Österreich zusammen mit seinem Koalitionspartner den anderen EU-Ländern zeigt, wie man die Probleme des 21. Jahrhunderts an der Wurzel packt?

In ihrer gegenwärtigen Verfassung können die EU-Länder die gemeinsam gesteckten politischen Ziele nicht erreichen. Existenzielle Fragen wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit, der soziale Ausgleich und der Generationenausgleich, die europäische "Souveränität" im Zeitalter der Digitalisierung und vor allem der Klimawandel warten auf Inangriffnahme. Dabei bietet sich mit dem europäischen Green Deal eine ganz konkrete Perspektive der Modernisierung.

Formel für Nachhaltigkeit

Wie sähe eine Formel aus, mit der sich ein nachhaltiger Umbau unserer Energie-, Mobilitäts-, Infrastruktur-, Ernährungs- und Fertigungssysteme erreichen ließe? Und zwar ohne Verlierer, soziale Spaltung oder Blockaden zwischen den Lagern zu erzeugen? Dieses Projekt erfordert, Fortschritt ab jetzt anders zu messen, neue Formen der politischen Mitwirkung zu nutzen, um so echte Marktanreize für Nachhaltigkeit zu schaffen und die Digitalisierung im Dienst ökosozialer Ziele zu beschleunigen. Genau hier könnte Österreich mutig Führung zeigen, indem sich das Land unter der Regierung Kurz/Kogler dazu verpflichtet,

1. seine politischen Entscheidungen jährlich auf einen echten Fortschrittsindikator auszurichten, so wie es das deutlich kleinere Neuseeland tut – und nicht länger nur nach dem BIP,

2. durch die Umschichtung von Arbeits- auf Ressourcensteuern zum Wegbereiter für ein wirtschafts- und arbeitnehmerfreundlicheres Steuersystem zu werden (wie in Schweden erstmals ausprobiert),

3. einen Transformations- und Innovationsfonds aufzusetzen (wie das viel kleinere Finnland),

4. eine nationale Klimakommission einzurichten (wie Großbritannien) sowie einen Bürgerrat (wie in Frankreich),

5. die Landwirtschaft im Sinne der Bauern und Konsumenten nach regenerativen Prinzipien neu auszurichten,

6. das Corona-Konjunkturpaket zu nutzen, um den Finanzplatz Wien zu einem Leitstandort für nachhaltige Finanzierung zu machen,

7. sich als Zentrum einer neuen Bauhausbewegung für nachhaltiges Bauen und Stadtentwicklung zu etablieren, basierend auf (österreichischem) Holzbau und ökologischen Materialien,

8. die Märkte durch intelligente Regeln zu nutzen, um grünen Strom, Rezyklate, organische Lebensmittel oder Ökosystemleistungen zu produzieren,

9. einen Digitalcluster "Industrie 5.0" für die Entwicklung ressourcenschonender Produktionsmethoden und Geschäftsmodelle zu schaffen und

10. den Aufbau einer "Circular Economy" mit weitgehendem Ersatz von Primärrohstoffen durch Sekundärrohstoffe zur langfristigen Absicherung der Petro- und Metallindustrie des Landes voranzutreiben.

Österreich fit zu machen für das 21. Jahrhundert im Zeichen von Klimawandel, Digitalisierung und sozialen Umbrüchen – das wäre ein Projekt, mit dem das Land sich selbst und Europa dienen und zudem mutige, transformative Führung beweisen würde.

Ganz Europa hat sich mit dem Green Deal auf anspruchsvolle Klimaziele und einen epochalen Strukturwandel verpflichtet. Kleinere Nationen wie Österreich können – entsprechende Entschlossenheit aufseiten der politischen Führungsspitze des Landes vorausgesetzt – ihre Agilität zu einem Wettbewerbsvorteil machen. Kurz als Klimakanzler? Die Umsetzung dieser Vision wäre eine Chance für Österreich und ein Geschenk für Europa. (Martin R. Stuchtey, 23.2.2021)