Wer auf Wikipedia vorkommt, wer gelöscht wird und wer als relevant gilt – natürlich spielt auch auf Wikipedia der Genderaspekt bei all diesen Fragen eine große Rolle.

Foto: EPA Fotograf: SASCHA STEINBACH

Im Herbst 2020 meldete sich eine Studentin bei mir. Sie besuchte ein Seminar zum Gender-Gap auf Wikipedia, im Rahmen dessen sie einen biografischen Wikipedia-Artikel über eine Frau erstellte. Sie hatte hierfür mich ausgewählt und wollte sich vor dem Hochladen mein Okay holen. Das bekam sie. Denn: In der deutschsprachigen Wikipedia kommen auf jeden biografischen Artikel über eine Frau fünf über Männer. Zudem ist Wikipedia auch auf der Ebene der Editor*innen kein gleichberechtigter Ort: Executive Director der Wikimedia Austria, Claudia Garád, schätzt den Anteil an nichtmännlichen Menschen auf Wikipedia auf zehn bis 20 Prozent. Genaue Zahlen seien nicht bekannt, denn "nicht alle geben ihr Geschlecht an oder nutzen Nicknames, aus denen es sich vermeintlich ableiten lässt, auch weil es durchaus zu mehr Diskriminierung führen kann und Anonymität generell ein hohes Gut in unseren Communitys darstellt", so Garád.

Gründe für die geringe Beteiligung von Frauen gibt es viele. Einige davon liegen nicht an Wikipedia selbst, sondern an gesamtgesellschaftlichen sozioökonomischen Rahmenbedingungen. Kurz: Männer haben wesentlich mehr Freizeit als Frauen und können sich eher einem zeitintensiven Hobby wie der Wikipedia widmen.

Blau statt rot

Seit langem gibt es deshalb Bemühungen, den Anteil von Frauen auf allen Ebenen zu erhöhen. So veranstaltet Wikimedia Austria regelmäßig feministische Edit-A-Thons, im Rahmen derer Artikel über Menschen geschrieben werden sollen, die keine Cis-Männer sind. Sandra Folie ist Literaturwissenschafterin, lehrt und forscht an der Universität Wien – unter anderem zum Wikipedia-Gender-Gap – und engagiert sich ehrenamtlich auf der Plattform. Sie hat über einen solchen Edit-A-Thon zur Wikipedia gefunden.

Das ganze Jahr über aktiv ist die Initiative "Women in Red". Das kollaborative Schreibprojekt hat es sich zur Aufgabe gemacht, möglichst viele Frauennamen auf Wikipedia mit Artikeln zu untermauern. "Der Name bezieht sich auf die Rotlinks in der Wikipedia, die auf Artikel hinweisen, die noch nicht existieren", so Sandra Folie. Diese Namen sollen nicht mehr "in red", sondern in Blau erscheinen. Folie leitete jene Lehrveranstaltung, in der die betreffende Studentin den Wikipedia-Eintrag über mich verfasst hat. Doch was geschieht, nachdem Artikel über Frauen erstellt werden? Welche Kultur herrscht auf Wikipedia? Wie sicher ist dort der Platz für Frauen?

Relevanz mangelhaft?

Um zu meiner eigenen Erfahrung zurückzukommen: Diese hat dazu geführt, dass ich heute die Frage, ob ich mit einem Wikipedia-Eintrag über mich einverstanden wäre, mit "Bitte nicht!" antworten würde. Anfang Februar wurde ich in einem Tweet markiert, über den ich über einen Löschvorschlag meines Wikipedia-Artikels erfuhr. Der Löschantrag wurde von einem Mann in einem herablassenden Ton formuliert. In der darauffolgenden Diskussion zur Löschung gab es weitere Abwertungen. Es wurde öffentlich (und für immer im Internet archiviert) meine "mangelnde Relevanz" diskutiert. Mehrmals wurde mir vorgeworfen, ich hätte den Artikel selbst geschrieben – "da macht sich jemand gerne wichtig, und die Folge ist ein unsäglich aufgebauschter Artikel" – und, da ich auf Twitter über meine Erfahrung spreche: "Ihr Verhalten disqualifiziert sie mMn für eine Enzyklopädie. Kann und tut sich ja überall anders breitest austoben."

Das ist bemerkenswert, da es in Enzyklopädien auch Einträge über Adolf Hitler und Serienkiller gibt, deren Verhalten sie offenbar nicht für Wikipedia disqualifiziert. Kurz: Es war sehr unangenehm. Ich bin auch nicht die Einzige mit einer solchen Erfahrung. Auf Social Media meldeten sich zahlreiche Frauen bei mir, denen Ähnliches widerfahren ist. Der Artikel über die Arbeitsmarktexpertin Veronika Bohrn Mena wurde auch vor kurzem gelöscht. Das aktuell berühmteste Beispiel ist allerdings die Laserphysikerin Donna Strickland: Sie war erst nach dem Erhalt des Physik-Nobelpreises 2018 relevant genug für einen Wikipedia-Eintrag. Auch der Ton in der Löschdiskussion über meinen Artikel ist kein Einzelfall. Die stellvertretende Chefredakteurin der "Süddeutschen Zeitung", Leila Al-Serori, kommentierte unter meinem Tweet: "Ist mir auch passiert, sehr unangenehm, wenn fremde Männer für alle einsehbar auf Wikipedia diskutieren, ob man relevant genug ist, und einem vorwerfen, es selber geschrieben zu haben und natürlich zu lügen, weil man in dem Alter als Frau unmöglich das erreicht haben könne."

Enzyklopädie des 21 Jahrhunderts

Dabei gibt es auf Wikipedia eine sogenannte Wikiquette, die "abfällige Äußerungen oder Spekulationen und Unterstellungen über die Motive der anderen Diskussionsteilnehmer" genauso untersagt wie "Nachforschungen über die Identität" von Benutzer*innen. Allerdings wird die Wikiquette nicht immer eingehalten, und nicht selten taucht dabei auch Frauenfeindlichkeit auf. Ein großes Problem stellen auch die "Relevanzkriterien" dar, gemäß denen entschieden wird, ob ein Artikel enzyklopädische Relevanz hat und damit auf Wikipedia bleiben darf. Diese reproduzieren gesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse, "wenn man zum Beispiel eine gewisse Anzahl von Einzelausstellungen für Künstler*innen voraussetzt, obwohl es Frauen nachweislich schwerer haben, diese zu bekommen", so Garád. Auch Sandra Folie kritisiert die vordergründig geschlechtsneutralen Relevanzkriterien: "Der gleiche Maßstab, den sie an Männer, Frauen und nichtbinäre Personen anlegen, ist nicht automatisch gerecht, nur weil er gleich ist. Wenn ein Geschlecht in der realen Welt benachteiligt wird und deshalb beispielsweise eine geringere Anzahl an historischen Quellen vorhanden ist, dann verstärken die Relevanzkriterien diese Benachteiligung sogar noch."

Damit wollen sich beide Wikipedianerinnen nicht zufriedengeben. "Wikipedia ist die Enzyklopädie des 21 Jahrhunderts und eines der größten sozialen Experimente der Menschheitsgeschichte – geschrieben nicht von wenigen handverlesenen Expert*innen, sondern von Menschen wie dir und mir. Und in diesem Sinne sollte sie auch unsere heutige Welt widerspiegeln, in der wir uns mit dieser eingeschränkten, elitistischen Weltsicht nicht mehr zufriedengeben wollen", so Garád. Kritik an der Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse auf Wikipedia kommt auch von Sandra Folie: "Als Feministin hat es mich zuvorderst wütend gemacht, weil wir das im 21. Jahrhundert, in einer, zumindest von ihrem Anspruch her, niederschwelligen, ja, 'freien Enzyklopädie' doch wohl besser hinkriegen können als die 'Große Männer der Weltgeschichte'-Schule."

Benutzerinnen sind lieber "Benutzer"

In meinem Fall wurde letztlich dem Löschantragsteller recht gegeben und der biografische Artikel über mich gelöscht. Über eine Löschung entscheidet nach einer einwöchigen Löschdiskussion ein Admin. "Admins kandidieren für dieses Amt und werden mit Zustimmung des stimmberechtigten Teils der Community ernannt", erklärt Folie. Wenig überraschend gibt es auch hier Probleme in der Geschlechterverteilung und mit Sexismus: Von derzeit 188 Admins geben nur zehn an, "Benutzerinnen" zu sein. Allerdings, so Folie, stimme diese Angabe auch nicht immer mit dem tatsächlichen Geschlecht der Person überein: "Eine Administratorin gab unlängst in einer Diskussion an, in der Wikipedia Sexismus zu erleben. Sie habe ihr Profil wieder auf 'Benutzer' umgestellt, um sich Stress zu ersparen."

Nach der Löschung eines Artikels bleibt allerdings die Löschdiskussion weiterhin online – in meinem Fall samt aller Abwertungen und falscher Unterstellungen. Aber auch damit war es nicht getan: Wikipedianer folgten mir auf Twitter, erstellten Twitter-Accounts zum alleinigen Zweck, meine kritisch-feministischen Beiträge über Wikipedia zu kommentieren. Zu guter Letzt wurde dann auch noch die Lehrveranstaltungsleiterin kontaktiert, in deren Seminar der Artikel entstand. Sie wurde gefragt, ob das denn meinerseits eine Lüge sei und ich den Artikel doch selbst geschrieben habe.

Frauen als Angriffsfläche

Die Bemühung, Wikipedia zu einem geschlechtergerechteren Ort zu machen und den Anteil der Einträge von Frauen über Frauen zu erhöhen, machte alle drei beteiligten Frauen zur Angriffsfläche: mich, die Autorin des Artikels und letzten Endes die Lehrveranstaltungsleiterin Sandra Folie, der E-Mails mit Nachfragen und Belehrungen darüber geschickt wurden, wie und was sie zu lehren habe. "Mein erster Impuls war Resignation", sagt sie. Inzwischen denke sie aber darüber nach, wie ich diese Erfahrung produktiv machen kann. "Es gibt – soweit ich weiß – für die deutschsprachige Wikipedia keine umfassende Untersuchung und Auswertung der Löschdiskussionen unter Genderaspekten."

Reicht es also tatsächlich, Frauen dazu aufzufordern, Artikel über andere Frauen zu schreiben? Oder macht man sie damit zur Angriffsfläche einer misogynen Kultur auf Wikipedia? Ist hier nicht Wikipedia in der Verantwortung, weitere Regeln einzuziehen? Claudia Garád verweist im Fall von Diffamierungen und Beleidigungen auf Wikipedia auf die Möglichkeit, sich an das "Trust and Safety"-Team zu wenden, von dem viele "nichts wissen" würden: "In berechtigten Fällen werden diese Inhalte dann auch von den Diskussionsseiten gelöscht, und die verantwortlichen User werden verwarnt oder in gravierenden Fällen sogar gesperrt." Allerdings ist der Prozess "langwierig und kostet zusätzliche Energie. Besser wäre es natürlich, den Umgang miteinander so zu gestalten, dass solche Prozesse nicht oder nur sehr selten nötig sind. Dafür gibt es nun die Initiative für einen universellen Verhaltenskodex für alle Wikimedia-Projekte. Ob und wie dieser in der deutschsprachigen Community umgesetzt und implementiert wird, ist allerdings noch unklar."

Banden bilden

Was kann man also tun? Sandra Folie ruft dazu auf, sich nicht entmutigen zu lassen. "Sich ein Benutzer*innenkonto anlegen, Artikel schreiben und/oder verbessern und somit unterrepräsentierten Personen, Gruppen und Themen – im Rahmen der eigenen Möglichkeiten – Repräsentanz verschaffen. Darüber hinaus: Aufklären, unterstützen, 'Banden bilden'."

Das ist wichtig, denn wenige Seiten werden so oft aufgerufen wie Wikipedia. Viele nutzen die Enzyklopädie als erste Anlaufstelle für Recherche jeglicher Art und verstehen sie als eine Plattform, die neutrales Wissen bereitstellt. Diese Wahrnehmung könnte aktuell nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Überspitzt gesagt: Auf Wikipedia schreiben Männer unter Männern über Männer.

Der Wikipedia-Gender-Gap ist sogar so signifikant und relevant, dass er einen eigenen Wikipedia-Artikel hat. Bislang ohne Löschdiskussion. (Beatrice Frasl, 23.2.2021)