Als am 15. März 1945 der Dampfer Drottningholm von Göteborg ablegte und sich Richtung Istanbul aufmachte, bedeutete dies für die 128 an Bord befindlichen türkischen Juden die Rettung aus der Hölle der Konzentrationslager Bergen-Belsen und Ravensbrück, in denen sie teils Jahre lang (mit Ausnahme einiger Frauen aus Wien und Berlin) ihr Leben unter dem NS-Regime gefristet hatten. Zu denjenigen, die als Ergebnis Schweizer Diplomatie nach fast einmonatiger Fahrt nach Istanbul und somit in ihr nominelles Heimatland kamen, gehörte die damals zehnjährige Luna Harrison: Als eine der vielen türkischen Staatsbürger mosaischen Glaubens, die im Zeitraum 1933–1945 außerhalb der Türkei lebten und durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik ihres Eigentums, ihrer Freiheit und nicht selten ihres Lebens beraubt wurden, war sie 1943 gemeinsam mit ihren Eltern ins Lager Westerbork deportiert und später nach Bergen-Belsen überstellt worden.

Als sie am 10. April in Istanbul ankam, hoffte sie wie viele andere dort einen "safe haven" zu finden – stattdessen verwehrten die türkischen Behörden ihr ebenso wie der überwiegenden Mehrheit der jüdischen Passagiere die Einreise, obwohl ihre Papiere bereits im Vorfeld monatelang geprüft worden waren. Nachdem sie tagelang auf der Drottningholm festgesessen hatten, wurde ihnen eine Unterkunft zugewiesen, in der sie wochen-, teils monatelang festgehalten wurden. Harrison gehörte zu jenen, die nach einer Weile zu türkischen Verwandten in Istanbul ziehen durften, wo sie oft zur Zielscheibe antisemitischer Übergriffe wurde: Der "safe haven" wandte sich in Form von Bürokratie und Alltagsrassismus gegen sie. Nach einjährigem Kampf verließ Harrison mit ihren Eltern, wie viele andere der jüdischen Drottningholm-Passagiere, die Türkei mit Hilfe des Roten Kreuzes1.

Eine gut etablierte Meistererzählung

Fast 70 Jahre danach, im Jahr 2014, wendet sich der damals amtierende türkische Minister für europäische Angelegenheiten, Mevlüt Çavuşoğlu, anlässlich des Jahrestags der Befreiung von Auschwitz öffentlich zu Wort, um die humanitären Verdienste der Türkei gegenüber verfolgten Minderheiten zu würdigen:

"Turkey not only embraced Jews who were sent into exile from Spain in 1492 in the Ottoman period, but also helped and protected its Jewish citizens and became a safe haven for all Jews, especially scientists and academicians, during World War II"2.

Dieses Statement steht in Konflikt mit dem Schicksal tausender türkischer Juden und Jüdinnen – reguläre Staatsbürger wie Luna Harrison, oder unter teils fadenscheiniger Begründung ausgebürgerte und somit oft staatenlos gewordene ehemalige Angehörige des osmanischen Imperiums und der späteren türkischen Republik. Sie wurden in den Vernichtungslagern Auschwitz und Sobibor, oder in Konzentrationslagern wie Mauthausen, Buchenwald und Ravensbrück gequält und ermordet, ohne dass sich die zuständigen türkischen Behörden flächendeckend um ihr Schicksal gekümmert hätten. Schätzungen verweisen auf eine Zahl von 2.200 bis 2.500 türkischen Juden (mit und ohne offizielle Staatsbürgerschaft), die alleine in den genannten Vernichtungslagern ermordet wurden. Ungefähr 300 bis 400 weitere durchlitten diverse Konzentrationslager, in denen viele davon ihre Befreiung nicht erlebten3. Zu denen, die ihre Inhaftierung im nationalsozialistischen KZ-System überlebten, zählt Ezra Natan, ein von Seiten der türkischen Behörden staatenlos gemachter Jude, der sich bis zu seiner Verhaftung im Jahr 1943 in Belgien vergeblich um Repatriierung bemüht hatte. Retrospektiv fand er harte Worte für das Verhalten der Republik Türkei:

"In vielen Fällen hätte die türkische Regierung all dies für die meisten ihrer Staatsangehörigen abwenden können. Aber trotz aller Demarchen und Eingaben vor und während der Haft (durch Personen, die in Belgien geblieben sind) unternahmen die konsularischen Stellen nichts, von der türkischen Regierung wurde keinerlei Hilfe entsandt, keine humanitäre Hilfsmaßnahme angestrengt, um die Menschenleben und ihren Besitz zu retten (oder taten die Repräsentanten dies vielleicht aus Hass?)"4

Ruhmvolle und fragliche Ausnahmen

Selbst wenn Ezra Natan dies leider nicht selbst erlebte – einzelne Repräsentanten der türkischen Republik engagierten sich definitiv für Einzelpersonen, indem sie ihnen beispielsweise sogenannte "Gefälligkeitspapiere" ausstellten, oder bei deutschen Behörden aktiv gegen die Verhaftung türkischer Juden protestierten: Zu ihnen zählt Selahattin Ülkümen, türkischer Generalkonsul auf der Insel Rhodos, dem Yad Vashem im Jahr 1989 für seine Rettung von 52 türkischen, mehrheitlich offiziell als Staatenlose geltenden Juden den Ehrentitel "Righteous among the Nations" verliehen hat5. Während Ülkümens ruhmvoller Einsatz für die bedrohten türkischen Juden auf Rhodos von wissenschaftlicher Seite aus unumstritten ist, trifft dies nicht für alle Personen zu, die in der türkischen Öffentlichkeit als "Türk Schindleri"6 (Türkische Schindler) bezeichnet werden: So hegen Wissenschafter dezidierte Skepsis in Bezug auf die Berichte von Namık Kemal Yolga (Vize- beziehungsweise späterer Generalkonsul in Paris) und Necdet Kent (Vizekonsul in Marseille): Beide engagierten sich angeblich in ähnlicher Weise für die Rettung türkischer Juden7. Während ihre Darstellung somit bei weitem nicht gesichert ist, nehmen sie dennoch einen wichtigen Platz im von türkischer Seite propagierten Narrativ eines türkischen "safe haven" ein – so beispielsweise im populären Film "Türk Pasaportu" (der türkische Reisepass), der 2011 fertiggestellt wurde.

Atatürk-Statue in Ankara.
Foto: APA/AFP/ADEM ALTAN

Egalitätsprinzip und Kemalismus

Während die Wissenschaft immer mehr das Bild einer für die Rettung von Juden aktiv auftretenden Republik Türkei hinterfragt, wird diese Darstellung in der türkischen Öffentlichkeit und Politik weiterhin hochgehalten. Diese wird im Kontext einer größeren Meistererzählung verortet, die eine absolute Egalität türkischer Staatsbürger (zugesichert in der türkischen Verfassung) in der Republikzeit sowie eine weit in die osmanische Phase zurückgehende, über 500-jährige tolerante Haltung gegenüber Minderheiten postuliert (ausgehend von der Aufnahme sephardischer Juden durch Sultan Bayezid 1492). Diese These ist eng mit der von türkischer Seite fehlenden Anerkennung des Genozids an den Armeniern (1915/16) verknüpft8.

Die Staatsideologie des Kemalismus, 1923 der jungen Republik zu Grunde gelegt und während der Zeit des Zweiten Weltkriegs von prägender Bedeutung für die türkische Politik und Gesellschaft, basiert auf einer konzeptionell nicht definitiv fassbaren Verbindung von sechs Prinzipien (Republikanismus, Populismus, Nationalismus, Säkularismus / Laizismus, Etatismus, Revolutionismus), wobei sämtliche Bereiche unter der Linse des türkischen Nationalismus betrachtet werden. Der türkische Nationsbegriff wurde offiziell als inklusives, ethnische und religiöse Unterschiede überbrückendes Konzept dargestellt: Einer der wohl berühmtesten überlieferten Aussprüche Mustafa Kemal Atatürks – Ne mutlu Türküm diyene ("Wie glücklich ein jeder, der sich Türke nennt") – fasst diesen Gedanken der selbstständigen, eigenmächtigen Zuschreibung und eines Zugehörigkeitsgefühls abseits starrer Grenzen zusammen. Dementsprechend inklusiv war auch das 1928 erlassene Staatsbürgerschaftsgesetz, das jedoch im Laufe der folgenden Jahre, die durch eine zunehmend minderheitenfeindliche Atmosphäre auf sozialen und politischen Ebenen geprägt waren, einige einschneidende Verschärfungen erfuhr: Diese Zusätze (unter anderem das Gesetz Nr. 2848) brachten eine rechtliche Legitimation von Diskriminierung von nicht-muslimischen und (ethnisch) nicht-türkischen Staatsbürgern mit sich, die auf nationalistisch-kemalistischen Vorstellungen über Kultur, Türkentum und Homogenitätsprinzip basierten.

Minderheiten als Opfer kemalistischen Social Engineerings

Die bürokratischen Hürden, die den von der NS-Rassepolitik sukzessive bedrohten türkischen Juden im Ausland in Bezug auf eine (weitere) Anerkennung ihrer türkischen Staatsbürgerschaft in den 1930er- und 1940er-Jahren ihren dringend benötigten Schutz durch einen im Zweiten Weltkrieg neutral auftretenden Staat durch Entzug der Staatsbürgerschaft verwehrten, sind selbstredend nicht losgelöst von der türkischen Innenpolitik sowie der allgemeinen sozialen Situation in der Türkei zu sehen. Während das Staatsbürgerschaftsrecht immer mehr an die Bedürfnisse muslimisch-türkischer Staatsbürger angepasst wurde, trat die kemalistische Politik verstärkt gegen Pluralismus auf, was sich in Form einer dezidierten Türkisierungspolitik äußerte. Jene Gruppierungen, die sich trotz umfassender Zentralisierung und einer Fülle an kemalistischen Reformen nicht friktionsfrei in die von der kemalistischen Riege konzipierten Gesellschaft der "Yeni Türkiye" (neuen Türkei) eingliedern ließen, wurden trotz des offiziell hochgehaltenen Egalitätsprinzips stigmatisiert und diskriminiert.

Zu den wohl bekanntesten Ausformungen dieser minderheitenfeindlichen Atmosphäre und Politik der 1930er- und 1940er-Jahre zählen die Pogrome von Thrakien im Sommer 1934 (auf Türkisch euphemistisch Trakya Olayları – Ereignisse von Thrakien – genannt), in deren Zuge großflächig Eigentum von Juden geraubt wurde. Diese Gewaltausbrüche werden nicht selten in direkte Verbindung mit politisch gelenkter Homogenisierung gesehen, da sie potenziell von der politischen Führung angestiftet beziehungsweise unterstützt wurden, um eine Abwanderung der jüdischen Bevölkerung aus dem sensiblen Grenzgebiet zu Bulgarien und Griechenland zu erwirken9. Weitere Beispiele für ethnisch-kulturelles social engineering finden sich in der Rekrutierung von nicht-muslimischen türkischen Staatsbürgern zur Zwangsarbeit im Jahr 1941, die unter der Bezeichnung Yirmi Kur‘a Nafıa Askerleri (Soldaten für öffentliche Arbeiten durch Ziehung von zwanzig Losen) rangierten und schwerer körperlicher Arbeit anstelle des allgemeinen Wehrdiensts an der Waffe ausgesetzt waren, und in der 1942 umgesetzten Varlık Vergisi, deren unterschiedliche, von Konfession und Ethnie abhängigen Steuersätze den Ruin vieler nicht-muslimischer Staatsbürger bedeuteten: Die extremen Steuersätze von 156 Prozent (für Griechen), 179 Prozent (für Juden) und 235 Prozent (für Armenier) im Vergleich zu den von der muslimischen Bevölkerung zu entrichtenden fün Prozent bezeichnet der Historiker Sait Çetinoğlu als "economic genocide"10.

Minderheitenfeindlichkeit als Verbindung zu spätosmanischen Diskursen

Die minderheitenfeindliche Politik der Republik Türkei äußerte sich somit in unterschiedlicher Ausprägung – für die im Ausland vom Nationalsozialismus bedrohten Juden zeigte sie sich in Form einer Ausbürgerungswelle während der späten 1930er-Jahre, sowie während des Zweiten Weltkriegs, die zu 90 Prozent Juden betraf: Diese kam in Kombination mit einem allgemeinen "Aufnahmestopp" für um Repatriierung ansuchende Juden einer indirekten Auslieferung an die NS-Politik gleich11. Der mangelnde beziehungsweise nicht existente Schutz durch die Türkei steht, wie angesprochen, in einem klaren Konnex mit einer auf social engineering ausgerichteten kemalistischen Politik, die in Hinblick auf ihre minderheitenfeindliche, von Nationalismus geprägte Ausformung entgegen der kemalistischen Meistererzählungen eine direkte Verbindung zu spätosmanischen Diskursen aufweist. Diese soziokulturelle und soziopolitische Verbindung zum durch den Kemalismus als degeneriert diffamierten osmanischen Zeitalter zeigt sich unter anderem auch in Gestalt der (früh-)kemalistischen Politikerriege, die sich mehrheitlich aus spätosmanischen Politikern und Militärs zusammensetzte, die nicht selten eine wenig ruhmvolle Vergangenheit als Mitbeteiligte am Genozid an den Armeniern oder ethnischen Säuberungen in Ostthrakien und in der kleinasiatischen Küstenregion hatten: So etwa der spätere türkische Staatspräsident Celal Bayar (1950–1960), der unter dem Deckmantel Hoca Galip an gegen Griechen gerichtete ethnische Säuberungen beteiligt war12.

Die im Zeitraum 1939–1945 durch die Türkei an den Tag gelegte Haltung gegenüber ihren jüdischen Staatsbürgern im In- und Ausland ist aus dieser Perspektive als Teil einer Kontinuität spätosmanischer, jungtürkischer Diskurse zu sehen, die den etablierten Meistererzählungen des Kemalismus (klarer Bruch mit dem Osmanischen Reich, republikanisches Egalitätsprinzip) diametral entgegensteht: Auch wenn Einzelpersonen wie Selahattin Ülkümen die minderheitenfeindliche Politik nicht mittrugen, war die Türkei mitnichten der viel beschworene "safe haven" – oder zumindest nicht für jene, die im kemalistisch-nationalistischen Verständnis keine Türken, sondern lediglich türkische Staatsbürger waren13. (Julia Brigitte Fröhlich, 26.2.2021)