Die größten Proteste finden in den Oppositionshochburgen östlich von Algier statt. Doch auch in der Hauptstadt zogen Demonstrierende durch die Straßen.

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Algeriens Protestbewegung ist wieder da. Nach rund elf Monaten pandemiebedingter Zwangspause meldete sich Algeriens Demokratiebewegung am Montag mit Massendemonstrationen gegen das Regime zurück. Allen voran in Tizi Ouzou, Béjaia, Bouira und Bordj Bou Arreridj in der Region Kabylei, einer Hochburg der Opposition östlich von Algier, zogen zehntausende Regierungsgegner durch die Straßen und forderten lautstark eine "Republik" und einen "zivilen Staat, keinen militärischen". Auch in Algier und mehreren Städten West- und Ostalgeriens versammelten sich erstmals seit März 2020 trotz Demonstrationsverboten und eines Großaufgebots der Polizei tausende Menschen und machten damit unmissverständlich klar, dass die revolutionäre Stimmung im Land nicht versiegt ist.

Damit lieferte die in Algerien meist "Hirak" (arabisch für "Bewegung") genannte Protestbewegung endlich Antworten auf viele offene Fragen. Denn seit Monaten war unklar, ob sie in der Lage sein würde, nach elf Monaten Zwangspause abermals zu mobilisieren.

Seit Montag ist nun klar: Die Bewegung ist lebendiger denn je. Schon gestern legten die Studierenden nach und gingen in kleinerer Zahl auf die Straße, unter anderem in Algier. Am Freitag wird erneut mit landesweiten Massenprotesten gerechnet.

Protest gegen Bouteflika

Angefangen hatte der Volksaufstand im Februar 2019. Die Kandidatur von Ex-Staatschef Abdelaziz Bouteflika bei der ursprünglich für April 2019 geplanten Präsidentschaftswahl hatte das Fass zum Überlaufen gebracht und die Menschen auf die Straßen getrieben. Innerhalb weniger Tage mauserten sich die ersten Spontanproteste gegen Bouteflika zu einer landesweiten Massenbewegung, die das Regime mit ihren friedlichen Dauerprotesten unter enormen Druck setzte. Sechs Wochen später zog die hinter den Kulissen die Macht übernehmende Armee die Reißleine und zwang Bouteflika zum Rücktritt. Doch der Hirak gab sich mit den unter der Ägide des Militärs durchgesetzten kosmetischen Personalwechseln nicht zufrieden und demonstrierte weiter – bis zum Ausbruch der Covid-19-Krise.

Um der Pandemie nicht zusätzlich Vorschub zu leisten, stellte der Hirak im März 2020 nach 13 Monaten ununterbrochener Massenmobilisierung seine Proteste kurzerhand ein – eine Entscheidung, die das Regime unmittelbar ausnutzte. Seither hagelte es förmlich Repressalien auf die Bewegung. Hunderte Aktivisten, Oppositionelle und Journalisten wurden verhaftet, vor Gericht gezerrt und zu teils empfindlichen Haftstrafen verurteilt.

Neuer Impuls

Dem Hirak waren seither die Hände gebunden, hatte die Bewegung doch durch ihre selbstauferlegte Protestpause ihr wirkungsvollstes Druckmittel auf Eis gelegt. Mehrere Versuche, die Bewegung zu revitalisieren, waren in den letzten Monaten fehlgeschlagen – bis jetzt. Der Hirak brauchte einen neuen Impuls. Der zweite Jahrestag der ersten landesweiten Massenproteste gegen Bouteflika am 22. Februar 2019 war offenbar genau jener Anstoß, den der Hirak gebraucht hatte.

Wie es nun weitergehen wird, ist dabei unklar. Präsident Abdelmajid Tebboune hatte letzte Woche das Parlament aufgelöst, Neuwahlen angesetzt und dutzende politische Gefangene freigelassen – unter anderem den prominenten Journalisten Khaled Drareni. Damit versucht er offenbar, die Gemüter zu beruhigen. Sollte der Hirak in den nächsten Wochen jedoch nur annähernd so stark auftreten wie 2019, muss das Regime deutlich mehr anbieten, um die Büchse der Pandora wieder zu schließen.

Der Hirak könnte derweil sogar noch stärker werden, als er es je war. "Die Proteste 2019 waren vor allem von der Mittelschicht getragen. Das könnte sich nun ändern, denn seither hat sich die soziale Lage in Algerien massiv verschlechtert, und selbst Teile der Mittelschicht rutschen angesichts der heftigen Preissteigerungen für Lebensmittel in die Armut ab", so Rachid Ouaissa von der Universität Marburg in einem von der Aktivistengruppe "Hirak Berlin" organisierten Webinar am letzten Sonntag. Ein Ende der Proteste dürfte in weiter Ferne liegen. (Sofian Philip Naceur, 23.2.2021)