Derzeit erfahren die Parteien sowie die Öffentlichkeit nur, wie die Richterschaft mehrheitlich entschieden hat, gegenläufige Meinungen einzelner Richter dürfen nicht publik gemacht werden. Die Regierung will das ändern, mit der SPÖ ginge das

Foto: APA/Hochmuth

Das türkis-grüne Transparenzpaket, das am Montag in Begutachtung geschickt wurde, haucht auch einer jahrzehntealten Debatte zum Verfassungsgerichtshof (VfGH) neues Leben ein. Der Gesetzesentwurf sieht nämlich vor, dass einzelne Verfassungsrichter künftig eine von der Mehrheitsentscheidung abweichende Rechtsmeinung publizieren dürfen – man spricht von einer "dissenting opinion" beziehungsweise einem Sondervotum. Bisher ist die Entscheidungsfindung der vierzehn Verfassungsrichterinnen und -richter für Außenstehende eine Black Box: Man erfährt nicht, wie knapp die Abstimmung nach den Beratungen ausfällt. Wenn einige der Höchstrichter mit dem Erkenntnis aus juristischen Gründen nicht einverstanden ist, wird das derzeit nicht öffentlich gemacht.

Wie oft das in Zukunft passieren würde, ist zwar fraglich, mit dem neuen Gesetz würde aber jedenfalls die Möglichkeit zur Abgabe von Sondervoten verankert. Für einen Beschluss der Reform ist eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erforderlich – da die FPÖ dagegen ist, braucht die Regierung also die Zustimmung der SPÖ. Die Sozialdemokraten haben schon vor Jahren die Option auf Dissenting Opinions gefordert, zeigen sich angesichts der türkisen Attacken auf die Justiz nun aber skeptisch, weil politischer Druck auf die Richter erzeugt werden könnte. In den USA sowie den meisten EU-Ländern gibt es Sondervoten, etwa in Deutschland.

FÜR

Die Veröffentlichung abweichender Meinungen würde mehr Licht in die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs bringen. Das Gebot der Transparenz staatlicher Institutionen sollte vor dem VfGH nicht haltmachen, der von Mindestsicherung über Lockdown bis Sterbehilfe über weitreichende Regeln des Zusammenlebens befindet. Gerade in heiklen grundrechtlichen Fragen kann es unter den Richterinnen und Richtern zu unterschiedlichen Abwägungen und Wertungen kommen. Durch die Einführung von Dissenting Opinions wären sie nicht länger gezwungen, Bedenken nach außen hin zu verschweigen.

In einer reifen Demokratie darf man den Bürgern ruhig zutrauen, die von der Mehrheit getroffenen höchstgerichtlichen Entscheidungen trotz Sondervoten zu respektieren und zu befolgen. Beim deutschen Pendant, dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, ist die – sporadisch genützte – Möglichkeit abweichender Meinungen seit 50 Jahren etabliert, zu einem merkbaren Autoritätsverlust kam es dadurch nicht. Auch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) werden trotz Dissenting Opinions akzeptiert. Das sollte auch am österreichischen Verfassungsgerichtshof klappen, wenn der Nimbus der Eintracht passé ist.

Nicht empfänglich für Druck

In besonders schwierigen Verfahren könnte ein transparenter Umgang mit Widersprüchen dazu beitragen, die unterlegene Partei mit ihren Ansichten nach der Entscheidung nicht gänzlich im Regen stehen zu lassen. Immerhin gab es auch gute – von Höchstrichtern geteilte – Argumente für ihre Sache, auch wenn diese sich letztlich gegen gute Argumente der anderen Seite nicht durchsetzen konnten.

Die Gefahr, dass sich die einzelnen Verfassungsrichter durch verstärkte Beobachtung ihrer Entscheidungen politisch oder medial in eine bestimmte Richtung drängen lassen, scheint gering. Zwar werden sie von der Regierung oder dem Parlament bestellt, doch sobald sie einmal im Amt sind, bleiben sie das automatisch bis zum Alter von 70 Jahren. Ohne den Druck einer Wiederwahl gibt es von vornherein wenig Anlass, sich politischem Druck zu beugen. Parteien werden weiterhin nicht erwarten dürfen, dass von ihnen nominierte Richter ihre Gesetze goutieren.

WIDER

Man stelle sich bei einer ideologisch aufgeladenen Frage wie Sterbehilfe oder Kopftuchverbot eine hauchdünne Entscheidung unter der VfGH-Richterschaft vor. Würden die abweichenden Rechtsauffassungen gemeinsam mit dem gegenteiligen Erkenntnis der Mehrheit publiziert, wäre das ein gefundenes Fressen für die notorisch erregungsgetriebene Öffentlichkeit. Im Nu würden differenzierte Argumente bis zur Unkenntlichkeit verflacht, die Schlagzeilen des Boulevards sind jetzt schon absehbar: "Am Höchstgericht fliegen die Fetzen", und "Chaos bei Verfassungshütern" wären nur zwei davon. Virologen können derzeit ein Lied davon singen, welche Lawine an Hassmails einem blüht, wenn man als Experte zu einschneidenden Themen individuell Position bezieht – bei den juristischen Expertinnen und Experten am VfGH wäre Ähnliches denkbar, sobald sie aus der Anonymität des 14-köpfigen Gremiums hervortreten.

Viel Aufwand, wenig Nutzen

Überdies sind die Richter nur nebenberuflich in Roben und Samtkrägen gehüllt, einige sind im Hauptberuf Anwälte – sie könnten Nachteile eines bestimmten Stimmverhaltens durchaus zu spüren bekommen. Generell ist fraglich, worin der große Mehrwert von Sondervoten bestehen soll. An der rechtlichen Verbindlichkeit der Entscheidung ändern sie nichts, und es gibt sowieso keine höhere Instanz, die etwas mit der Einschätzung der Minderheit anfangen könnte. Für die Fachdiskussion über die VfGH-Judikatur braucht es die abweichenden Gutachten auch nicht, dafür gibt es genügend rechtswissenschaftliche Zeitschriften, in denen sich strittige Punkte im Detail beleuchten lassen.

Dem fraglichen Nutzen steht jedenfalls ein Brocken Energie entgegen, der für die saubere Niederschrift einer Gegenmeinung draufgeht. Es wäre also auch in Zukunft wahrscheinlich, dass trotz Dissens vielfach keine Dissenting Opinions veröffentlicht würden, weil sich das bei der Masse an Fällen nicht ausgeht. Dann würde erst recht wieder der falsche Eindruck ungetrübter Harmonie erzeugt.

Beim Verfassungsgericht selbst herrscht Skepsis zur geplanten Gesetzesänderung. Am Dienstagabend sprach sich VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter in der "ZiB 2" gegen Dissenting Opinions aus, denn diese würden nicht zur Arbeitsweise des Gerichtshofes passen. Ob es zu Grabenwarters Position derzeit abweichende Meinungen innerhalb des VfGH gibt, ist nicht bekannt. (Theo Anders, 24.2. 2021)