Soziologin Kristina Stöckl geht in ihrem Gastbeitrag auf die Frage ein, was dafür spricht, zu erfahren, wie die einzelnen Höchstrichterinnen und Höchstrichter des Verfassungsgerichtshofes entschieden haben – und was dagegen.

Soll am Höchstgericht künftig auch eine abweichende Meinung offengelegt werden? Oder soll diese wie bisher intern bleiben?
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Anfang dieser Woche hat die Regierung ihren Entwurf für ein Informationsfreiheitsgesetz in Begutachtung geschickt. Darin vorgesehen: Bei nicht einstimmiger Beschlussfassung im Gremium der Verfassungsrichterinnen und -richter sollen fortan abweichende Meinungen in einem Sondervotum festgehalten werden können. Bisher gilt im Verfassungsgerichtshof (VfGH) die Regelung, dass das Beratungsgremium, bestehend aus 14 Richterinnen und Richtern, Entscheidungen per Einstimmigkeit oder Mehrheitsbeschluss fällt, bei der Ausfertigung der Erkenntnisse aber weder das Abstimmungsverhalten noch etwaige abweichende Meinungen nach außen kommuniziert werden.

Ist Österreich damit ein Sonderfall? Während "Dissenting Opinions" oder abweichende Meinungen in den angloamerikanischen Common-Law-Systemen üblich sind, gibt es neben Österreich auch in Frankreich, Italien, den Niederlanden und Belgien kein Sondervotum. In den restlichen Ländern Europas können Verfassungsrichterinnen und -richter eine abweichende Meinung veröffentlichen.

Strittige Fragen

In den letzten Jahren sind strittige Fragen der Gleichbehandlung und Freiheitsrechte zunehmend über den Weg der Gerichte entschieden worden: die Ehe für alle, Sterbehilfe, Kopftuchverbot. Für die Regierung und die Parteien war es mitunter der leichtere Weg, eine Entscheidung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg über den VfGH in die österreichischen Gesetzbücher aufzunehmen, als Themen in der öffentlichen, politischen und parlamentarischen Debatte auszudiskutieren.

Fast alle Entscheidungen, die vor dem VfGH landen, sind kontrovers, deshalb werden sie dort ja anhängig: die Sterbehilfe – vom VfGH in engem Rahmen erlaubt; das Kopftuchverbot – vom VfGH gekippt; die Ehe für alle – vom VfGH für zulässig befunden. Die Rechtsprechung des VfGH ist bei solchen Fragen eine Wegmarke, die – zumindest bis zur nächsten Befassung mit dem Thema – Klarheit schafft. Die drei genannten Entscheidungen waren Beschlüsse, die über den gesellschaftlichen Mainstream hinauswiesen, die einen neuen Standard an Gleichbehandlung und religiöser Neutralität in Österreich etabliert haben. Sie waren – nennen wir es so – progressive Wegmarken. Was aber wird aus solchen progressiven Wegmarken, wenn das große Taferl in eine Richtung zeigt, drunter aber ein kleines in die andere?

Druck könnte steigen

Aus der Perspektive einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Rechtsprechung und Gerichtsbarkeit ist es grundsätzlich zu begrüßen, wenn Recht als soziales, von Menschen gemachtes Phänomen sichtbar wird. Das Bild von obersten Richterinnen und Richtern, die mit ihrer Person für Meinungen einstehen und fachliche Auseinandersetzungen nicht hinter vorgeblicher Neutralität verbergen, ist dem einer unzugänglichen, unoffenen, beamtennahen Richterschaft vorzuziehen. Allerdings könnte durch die Zulassung von Sondervoten der Druck auf Richterinnen und Richter gerade bei strittigen Themen steigen.

Auf die Entscheidung zur Sterbehilfe im Dezember 2020 reagierte die katholische Kirche empört. Der Erzbischof von Salzburg und Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, Franz Lackner, sagte im Ö1-Abendjournal, er akzeptiere natürlich, dass Österreich ein Rechtsstaat mit dem VfGH als oberstem Gremium sei, aber die Kirche könne eine solche Entscheidung nicht mitvollziehen. Wie wäre diese Debatte verlaufen, wenn die Entscheidung einzelner Verfassungsrichterinnen und -richter durch die Veröffentlichung von Sondervoten transparent gemacht worden wäre? Hätten einige der Richterinnen und Richter ihre abweichende Meinung öffentlich gemacht? Hätte Druck geherrscht, dass sie es tun? Wäre die Abwesenheit ihres Sondervotums bei so einer kontroversen moralpolitischen Frage registriert worden?

Die künftigen richterlichen Sondermeinungen würden mit großer Wahrscheinlichkeit vorhandene Konfliktlinien in der Gesellschaft aufgreifen und sie, durch den Rechtsentscheid und seinen Widerspruch, womöglich noch vertiefen. Gleichzeitig ist aber auch diese richterliche Debatte eine beschränkte, denn die Richterinnen und Richter sind letztendlich doch eine homogene Gruppe. Die Gefahr, dass dadurch erst recht nur bestimmte Bruchlinien (etwa die katholisch-laizistische bei der Frage der Sterbehilfe) verstärkt und andere mögliche Rahmungen der Debatte ausgeklammert werden, ist real. Auch eine transparent gewordene richterliche Meinungsverschiedenheit kann die demokratische und öffentliche Debatte nicht ersetzen, im schlimmsten Fall kann sie sie sogar kanalisieren und einschränken.

Politisches Kampffeld

Zu beobachten ist diese Dynamik in den USA, wo nicht nur die Richterbestellung des Supreme Court ein politisches Kampffeld ersten Ranges ist, sondern wo auch die öffentliche Debatte über moralisch-ethische strittige Themen zunehmend in den Begriffen des Rechts (individuelle Rechtsansprüche, Verweigerung aus Gewissensgründen et cetera) geführt wird. Es wäre im Übrigen falsch, anzunehmen, dass die Rechtssprüche und etwaigen künftigen "Dissenting Opinions" der österreichischen Richterinnen und Richter nur in österreichischen Angelegenheiten Belang haben würden. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte greift die Richterschaft auf den Argumentationsschatz aus Urteilen anderer Verfassungsgerichtshöfe zurück. Auch Anwaltskanzleien, die Fälle bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bringen, berufen sich mitunter auf die abweichenden Meinungen von Richterinnen und Richtern. Die Einführung des Sondervotums im VfGH könnte die Dynamik einer zunehmenden Vergerichtlichung und Verrechtlichung bei strittigen Thematiken zum Nachteil von breiten demokratischen und kollektiven Aushandlungsprozessen verstärken. (Kristina Stoeckl, 25.2.2021)