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Glaubt unsere Gesellschaft gebannt von der Lust auf Angst: Philosoph Norbert Bolz.

Foto: Hohenberg/laif/picturedesk.com

Aktuell liest Norbert Bolz, als Debattenführer ein ebenso konservativer wie streitbarer Kopf, eigentlich der Ökologiebewegung die Leviten. Greta und Co stehen als globale Erwärmer des Meinungsklimas im Fadenkreuz des Medienwissenschafters. Doch was tun mit der Pandemie?

STANDARD: Im Buch "Die Avantgarde der Angst" attestieren Sie unserer Gesellschaft neo-religiöse Züge. Die Sorge um Mutter Erde macht uns zu Angsthysterikern. Jetzt müssen wir Corona durchtauchen. Werden wir uns, nach glücklicher Durchimpfung, in Hedonisten verwandeln?

Bolz: Es fällt mir schwer, die Analogie zu den "Roaring Twenties" zu ziehen. Corona ist eine Katastrophe nicht für alle, aber für viele Menschen, und das vor allem wirtschaftlich. Doch hält das Ausmaß der Bedrohung dem Vergleich mit einem Krieg nicht stand. Es handelt sich eher um ein permanentes Ärgernis. Corona bedeutet vor allem für die Jugend eine unerträgliche Eingrenzung ihrer Lebensbedingungen. Aber man kann die Pandemie deshalb nicht mit einer Naturkatastrophe vergleichen, oder mit einem großen Krieg. Man würde durch eine Analogie mit den 1920ern die Katastrophe des Krieges bagatellisieren.

STANDARD: Was wird es stattdessen geben?

Bolz: Einen kompensatorischen Hedonismus. Aber der findet dann eben in ganz normale, zivile Bahnen zurück. Man gönnt sich einen ausgedehnten Urlaub oder feiert Partys.

STANDARD: Es wird nicht zu einer riesengroßen Ressourcenverschwendung kommen?

Bolz: Eine Kultur der Verschwendung hat es in Europa überhaupt noch nie gegeben. Das sind Seminarträume, die man sich von Ethnologen hat eingeben lassen. Sie widerspricht auch dem zivilisatorischen Geist. Dieser wirkt noch dann, wenn die Leute nicht mehr durch Religion oder Ethos gebunden sind, wie vielleicht noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts.

STANDARD: Sie schildern in Ihrem Buch die Dialektik jeder Wissensgesellschaft. Wissen bildet noch keinen Vorgriff auf die Kenntnisse von morgen. Zugleich rückt die Pandemie die Experten ins Licht. Diese teilen unentwegt ihr Wissen mit uns. Stößt dieses Modell gerade an Grenzen?

Bolz: Nicht die wissensbasierte Gesellschaft, sondern die Erwartungen, die das Publikum an die Wissenschaft richtet. Wir haben es womöglich auch mit keiner Krise der Wissenschaft zu tun, sondern bloß mit einer solchen der Expertenkultur. Experten sind Fachleute, die in sehr, sehr seltenen Fällen Medienaufmerksamkeit bekommen. Sobald ihnen diese zuteil wird, erweisen sie sich als ganz normale Menschen: verführbar durch Ruhm, durch Publizität. Sie verhalten sich dann gerade nicht wie Wissenschafter. Sie entwickeln keine Hypothesen und Modelle, die sie als Anbieter in Konkurrenz zu anderen Modellen stellen. Sondern sie tun, als besäßen sie den Durchblick. Dass sie als Mahner und Warner auftreten, darin besteht der größte Widerspruch zum Geist der Wissenschaft! Wir, als Öffentlicheit, haben die Wissenschafter dazu verführt, sich medienwirksam als Experten aufzuspielen. Eine fatale Entwicklung.

STANDARD: Worin besteht aktuell die Rolle des Staates? Hobbes beschrieb den Schutz, den er den Bürgern gewährt, um dafür Gehorsam zu verlangen. Stehen wir an der Kippe? Es wird Gehorsam verlangt, dieser korreliert aber nicht ausreichend mit dem Schutz.

Bolz: Es liegt in der Tat ein Missverhältnis zwischen gefordertem Gehorsam und gewährtem Schutz vor. Bei Thomas Hobbes hat das die extreme Konsequenz, dass er sagt: In einem solchen Fall kann jeder einzelne Bürger sich aus dem Vertrag zurückziehen und die Sache selbst in die Hand nehmen – wenn der Staat ihn eben nicht schützen kann. Viele empfinden, dass dem Staat die Legitimationsgrundlage entzogen ist. Hinzu kommt, dass sehr viele Politiker sich faszinieren lassen von den Möglichkeiten des Ausnahmezustands. Dieses Gefühl absoluter Souveränität, das die Politiker unfehlbar beschleicht, wenn sie sagen können: Wir leben in einer Zeit, die außergewöhnlich ist und deshalb völlig außergewöhnliche Maßnahmen erfordert. Das führt zur Umgehung der normalen Prozesse einer parlamentarischen Demokratie. Das ist bei uns in Deutschland weit fortgeschritten.

STANDARD: Führt das zu irreparablen Beschädigungen des Institutionengefüges?

Bolz: Dazu halte ich die deutsche Bevölkerung für zu träge: Sie lässt sich nicht so leicht radikalisieren. Ich sehe keinerlei Hinweise auf eine Radikalisierung. Im Gegenteil, es ist zum Teil erstaunlich, was sich die Deutschen alles so zumuten lassen. Fast ohne zu murren. Wir leben im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten. Wir hier in Berlin sind sehr anfällig für dieses Geführt-Werden-Wollen. Für Politiker eine fantastische Situation!

STANDARD: Und mit Blick in die Zukunft?

Bolz: In meinem Buch beschreibe ich neben realen Krisen vornehmlich die imaginären. Die Lust am Ausnahmezustand halte ich für gefährlicher mit Blick auf die Politiker als mit Blick auf die Bevölkerung. Was kommt nach Corona? Ich gehe davon aus, dass wir relativ schnell in die alten Bahnen des Wohlfahrtsstaates zurückkehren werden.

STANDARD: Die Panik in der Öffentlichkeit ist dann, wenn die Gefahr sich manifestiert, gar nicht mehr stark ausgeprägt?

Bolz: Über imaginäre Katastrophen erregt man sich sehr viel mehr als über ein reales Problem. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass die Menschen unbewusst ihre Angstlust nur da entwickeln, wo es für sie gar nichts zu befürchten gibt. Bricht dagegen tatsächlich ein Krieg aus, eine Seuche, dann reagiert man weitaus gedämpfter – und weniger hysterisch. Fast schon herdenartig geduldig. Und lässt sich von der Obrigkeit allerhand bieten. Im Notstand reagieren die Leute letztlich ruhiger, um nicht zu sagen: vernünftiger.

STANDARD: Kehrt das Angstsyndrom nach Überwindung der Pandemie wieder?

Bolz: Ich sehe keinen Ausweg aus dem Syndrom der Angstreligion. Es gelangt zur Wirksamkeit, was Odo von Marquard einmal das "Prinzessin auf der Erbse"-Syndrom genannt hat. Dass wir eine Sehnsucht nach Nöten haben, obwohl es uns nach dem Zweiten Weltkrieg doch so gut wie noch nie gegangen ist. Dann werden eben wieder imaginäre Probleme erzeugt, woraufhin man wieder alle schönen Formen der Hysterie und Angstlust entwickelt. Im Angesicht der realen Drohung schrickt man eher zusammen, wird stumm. Die Hysterien, die ich beschreibe, sind mehr ein Zeichen dafür, wie gut es uns geht.

STANDARD: Werden die Kollateralschäden der Pandemie zu sozialen Verwerfungen führen?

Bolz: Schwer zu beurteilen, welche wirtschaftlichen Erschütterungen sich daraus weltweit ergeben. Interessierte Kreise in Politik und Medien können die aufgetauchten Großszenarien sehr gut dafür benützen, um einen Revival des Sozialismus auszurufen.

STANDARD: Inwiefern?

Bolz: Es gibt wiederum Propaganda für einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Ich hielt den eigentlich für untergegangen. Das könnte in der Tat eine gewisse Konsequenz sein. Nicht in der realen Wirtschaft, sondern in der Rhetorik. (Ronald Pohl, 26.2.2021)