Österreichische Finanzminister, die der Untreue oder der Bestechlichkeit beschuldigt werden, sind leider keine Einzelfälle mehr. Können wir von China etwas über Korruption und deren Bekämpfung lernen? Ein Blick in das neue Buch von Yuen Yuen Ang, "China's Gilded Age".

Im Februar 2001 war ich das erste Mal persönlich mit Korruption konfrontiert. Als Finanzdelegierter für das Österreichische Rote Kreuz in Mosambik war ich für die korrekte Abwicklung von Brunnenbauprojekten in der Umgebung der Stadt Beira zuständig. Am lokalen Flughafen waren Lieferungen aus Österreich konfisziert worden. Im kleinen Büro der lokalen Zollwache erklärte mir der leitende Beamte, er würde dringend Geld für "Erfrischungen" für sein Team benötigen. Andernfalls würden die Einfuhrbestätigungen für unsere Lieferung etwas länger dauern – was "einige Wochen" bedeuten konnte.

Umgerechnet 20 Dollar würden schon genügen. Ich erklärte unsere Regeln, die solche Zahlungen nicht zuließen. Es kam zu einer eigenartigen Situation, in der ich in seinem Büro darauf wartete, dass er endlich die Papiere unterschrieb, und der Beamte darauf wartete, dass ich aufgebe und die 20 Dollar zahlen würde. Gegen zehn Uhr abends rief seine Frau an und beorderte ihn nach Hause. Er gab auf und unterschrieb. Wir übernahmen die Lieferung, und ich dachte, ich hätte ein kleines Stück Afrika von Korruption befreit. Spätere Lieferungen an den Flughafen in Beira gingen jedoch verloren, wurden woanders hingeschickt oder waren beschädigt. Wir mussten schließlich auf den Flughafen in der Hauptstadt Maputo ausweichen, der über 1.000 Kilometer entfernt war. Ich kenne noch andere Fälle, in denen Zahlungen von kleinen Beträgen zumindest effizienter gewesen wären. Wie passt diese Form der Korruption zusammen mit anderen, schwerwiegenderen Formen wie der Bestechlichkeit von hohen Beamten?

Vor dem Hintergrund der Antikorruptionskampagne des chinesischen Präsidenten Xi Jinping, die sich sowohl gegen "Fliegen" (kleine bestechliche Beamte) als auch gegen "Tiger" (hohe Beamte) richtet, präsentiert die Autorin Yuen Yuen Ang in "China's Gilded Age" ihre Thesen zu Korruption und Wachstum. Tatsächlich gibt es einiges von China zu lernen.

Wachstum und Korruption hängen zusammen

Zunächst ist es nicht ungewöhnlich, dass schnelles Wachstum von Korruption begleitet wird. In der Grafik unten sehen wir eine Auswahl von reichen und armen Ländern nach zwei Dimensionen gereiht. Auf der vertikalen Achse befindet sich das Pro-Kopf-Einkommen (angepasst an die Kaufkraft der einzelnen Länder). Die reichsten Länder sind demnach ganz oben in der Grafik platziert. Auf der horizontalen Achse finden wir einen sehr häufig verwendeten Index zur Wahrnehmung von Korruption in einem Land. Der Corruption Perception Index wird jedes Jahr von Transparency International erstellt. Je höher der Wert, desto geringer die Wahrnehmung von Korruption. Topländer wie Norwegen oder Neuseeland befinden sich daher ganz rechts in der Grafik.

Dieser weltweite Vergleich zeigt China in guter Gesellschaft mit anderen Schwellenländern (wie Indonesien oder Brasilien) – quasi in der Mitte eines Verlaufs, in dem die Korruption mit steigendem Einkommen abnimmt. Diese Länder wachsen für gewöhnlich schnell (zumindest für einen gewissen Zeitraum), aber leiden weiterhin unter Korruption. China sticht insofern heraus, weil es ein so großer Wirtschaftsraum ist, der so viele Jahrzehnte hindurch stark gewachsen ist. Chinas BIP gehört mit dem der USA und dem der EU zu den größten der Welt. Andere Schwellenländer wuchsen nur über kürzere Zeiträume so stark, und ihr Wachstum brach schnell wieder ein – oft begleitet von politischen Krisen und Korruption. Das Buch erklärt einen Teil von Chinas Sonderweg.

BIP und Korruption 2014. Quelle WDI (2016) und Transparency International (2016). Download unter ourworldindata.org/grapher/gdp-per-capita-vs-corruption-perception-index.

Vier Kategorien der Korruption

Den viel zu ungenauen Begriff Korruption unterteilt die Autorin in vier Kategorien. Das ist lobenswert und neu, weil diese verschiedenen Arten der Korruption dem Wirtschaftswachstum in unterschiedlicher Weise schaden – oder sogar kurzzeitig nützen. Ein Großteil des Buches ist der wissenschaftlichen Untersuchung von Korruption in China entlang dieser Kategorien gewidmet.

Für kleine Beamte gibt es die Kategorien "Petty Theft" und "Speed Money". Der erste Begriff ist schlichte Erpressung, etwa wenn ein Polizist Geld sehen will, damit er den Führerschein wieder herausrückt. "Speed Money" beschleunigt an sich korrekte, aber langsame Verfahren. Das wären die 20 Dollar für Erfrischungen bei der Zollabwicklung in Mosambik gewesen. Beide Formen sind schädlich für die langfristige Entwicklung, aber in unterschiedlicher Art und Weise. Petty Theft ist einfach nur schädlich, verursacht Kosten und zerstört das Vertrauen in Polizei, Justiz und Behörden. Speed Money beschleunigt Bürokratie und mag kurzfristig effizient scheinen.

In der Ökonomie sind beide Formen gute Beispiele für das Prinzipal-Agenten-Problem, das wir bei Korruption und Freunderlwirtschaft immer wieder finden. Es ist im Grunde ein Informationsproblem, weil der Vorgesetzte die Tätigkeiten seiner ihm unterstellten Beamten nicht ausreichend überwachen kann. Das Problem wird stärker, wenn es keine anderen Anreize für den kleinen Beamten gibt, seine Pflicht zu erfüllen – etwa gute Aufstiegschancen oder ein ausreichendes Gehalt. Bei Speed Money gibt es immerhin eine Leistung für das Bestechungsgeld. Ein Service wird schneller erledigt für diejenigen, die dafür zahlen wollen. Diese Zahlungen lösen aber nicht das Grundproblem (etwa unterbezahlte Beamte) und enden in dauerhafter und schädlicher Korruption, wenn sie zur Regelmäßigkeit werden.

Grand-Theft-Beamter

In Österreich und anderen reichen Ländern gibt es strengere Überwachung und bessere Gehälter, die mit der Dienstzeit steigen. Hier stehen die beiden anderen Kategorien, die für höhere Beamte vorbehalten sind, mehr im Vordergrund. Mit "Grand Theft" bezeichnet die Autorin die simple Bereicherung von hohen Staatsdienern im Finanzbereich, die Staatsmittel abzweigen und auf ihr Konto umleiten. Auch das ist einfach nur schädlich, sowohl für reiche als auch für arme Länder. Der Unterschied ist, dass reiche, demokratische Länder lebendige und kritische Medien haben und eine (hoffentlich) unabhängige Justiz, die solche Fälle aufdecken und aufklären.

Korruption ist in Österreich nichts Ungewöhnliches.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Die vierte Kategorie ("Access Money") ist wiederum eine Zahlung für eine Leistung. Große Unternehmen zahlen – etwa durch Spenden – an die Politik, um sich einen wirtschaftlichen Vorteil zu erkaufen. Aus Sicht der Unternehmen eine simple Investition, die zumindest in China kurzfristig das Wachstum ankurbeln kann. Große Unternehmen können mit politischer Unterstützung sehr schnell wachsen, Kapital bilden und Arbeitsplätze schaffen. Die Autorin belegt, dass seit den 2000er-Jahren diese letzte Form die für China bedeutendste ist. Sie ist eng verknüpft mit dem chinesischen Anreizsystem für höhere (vom Politbüro eingesetzte) Beamte. Deren Aufstieg in höhere Ränge hängt vom Erreichen wirtschaftlicher Ziele in den ihnen anvertrauten Regionen ab. Wenn Parteifunktionäre Aufträge an "befreundete" Unternehmen vergeben, heizen sie rasch die lokale Wirtschaft an. Dies wiederum gestattet ihnen, finanzielle Nebenleistungen für unterstellte Beamte aus Peking abzurufen, quasi als Belohnung für das kollektive Erreichen von lokalen Wachstumszielen. Das bessert die sehr niedrigen Gehälter kleiner Beamter unter ihnen auf und hat in China – so die Autorin – viel zur Reduktion von Petty Theft und Speed Money beigetragen. Höhere lokale Beamte, die Access Money entgegennehmen, können sich damit selbst bereichern; das rasche Wachstum dient ihrer Karriere, und ihre Untergebenen erhalten bessere Gehälter, was wiederum die kleineren Formen von Korruption hemmt und die Zufriedenheit in der Bevölkerung hebt.

Die Autorin vergleicht diese durchaus kompetitive Form der Korruption mit dem Goldenen Zeitalter ("Gilded Age") der USA im 19. Jahrhundert, als schnelles Wachstum und sich ausbreitende Korruption Hand in Hand gingen. In beiden Fällen dominierte Access Money den Korruptionsmix. Chinas Antwort ist die von oben angeordnete Antikorruptionskampagne, deren Erfolg noch aussteht. Am ehesten hat es Politfunktionäre vorsichtiger gemacht. In den USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts hingegen brachten demokratische Strukturen und freie Medien Access-Money-Zahlungen auf das heutige Niveau. Yuen Yuen Ang hat ihr Buch zwar nicht als Antwort auf aktuelle politische Skandale in Österreich geschrieben, eine empfehlenswerte Analyse der engen Verknüpfung von Politik und Unternehmen ist es aber dennoch. (Valentin Seidler, 2.3.2021)