Seit fast nur noch gechattet wird, ist die vielfach erprobte politische Lebensweisheit, ein Schriftl ist ein Giftl, ein wenig in Vergessenheit geraten. Sie aus besonderem Anlass derselben entrissen zu haben, ist ein Verdienst unseres Bundeskanzlers, und dieses Blatt war boshaft genug, es zu würdigen, indem es einen Text aus seiner Feder, versehen mit teils gelehrten, teils emendierenden Randglossen, in voller Länge faksimiliert abgedruckt hat.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP).
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Das Grundproblem des Schreibens, ob es auch von jenem sittlichen Ernst getragen ist, den man von einem Regierungschef erwarten müsste, blieb dabei ungeklärt. Es wird schon beim fehlerhaften Faktum der Anschrift offenbar, an die es gerichtet war. Das rote Netzwerk der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft war nur die Deckadresse, der wirkliche Adressat war eine möglichst breite Öffentlichkeit. Warum? Der Kanzler, der Journalisten verbieten will, aus Akten der Staatsanwaltschaft wörtlich zu zitieren, wollte sie für diese geplante Einschränkung der Berichterstattung vorbeugend entschädigen, indem er das, was aus seinem Brief in die Akten geraten könnte, gleich selber öffentlich macht. Wieweit man das als Wohltat der Obrigkeit empfinden darf, hängt dann natürlich von den Fakten ab, die er der Staatsanwaltschaft öffentlich zu einer Bewertung zur Verfügung stellt, wie er sie sicherheitshalber gleich selber getroffen hat. Seine Bereitschaft, den Staatsanwälten "sieben Tage die Woche" als Zeuge zur Verfügung zu stehen, hat er überflüssig gemacht, weil mit der Zeugenschaft seines Briefes eingelöst, zu dem er kaum länger als eine Stunde gebraucht haben kann.

Reines Gewissen

Er wird dem roten Netzwerk doch nichts anderes verraten als der Öffentlichkeit! Und erspart sich außerdem noch viel Zeit und Kraft, die er zur Überwältigung seines Regierungspartners benötigt. An Zeit hat es bisher gefehlt, beklagt er doch in seinem Brief, er sei "seit über einer Woche täglich mehrere Stunden beschäftigt, Medienanfragen aus dem In- und Ausland zu diesen falschen Anschuldigungen zu beantworten". Jetzt wird alles besser, diese Neugierigen brauchen nur noch seinen Brief zu lesen, wissen alles über fehlerhafte Fakten, und er kann unbelästigt regieren.

Und überhaupt, sein Gewissen ist rein. Um es auch künftig als rein erscheinen zu lassen, schreckt er – zweifellos unbeabsichtigt – vor der rhetorischen Figur einer Paralipse nicht zurück. "Ich würde mich auch nie öffentlich in ein Verfahren einmischen", niemals, außer natürlich, wenn es so weit kommt, dass er täglich stundenlang Anfragen beantworten muss. Dann tut er es eben trotzdem. Doch jetzt gibt es einen Hoffnungsschimmer. Sein Brief erklärt über die Staatsanwaltschaft hinaus der ganzen Welt alles, und es gibt keinen Grund mehr, sich öffentlich in ein Verfahren einzumischen.

Wozu auch, wenn man ebenso gut versuchen kann, die Justiz, von den Staatsanwälten bis zu den Höchstrichtern, für Parteizwecke zurechtzubiegen, und in einem Aufwaschen auch gleich die Medien zu schikanieren. Übrigens, in der bis in die Antike zurückreichenden Tradition der Briefliteratur wird Sebastian Kurz als Stilist ebenso wenig eine Rolle spielen wie in der Weltpolitik. Gedankenarmut gepaart mit Wiederholungszwang – ein "Reputationsschaden" für die Republik. (Günter Traxler, 26.2.2021)