Jede Krise biete eine Chance, sagt Günther Aigner und vergleicht Tirol mit dem Wein in den 80er-Jahren. Der Markenzusammenbruch nach dem Weinskandal habe "den Samen in sich getragen für die heutige Blüte".

STANDARD: Ist der Skisport noch zu retten?

Aigner: Ja. Weil das Skifahren eine zeitlose Faszination auf die Menschen ausübt. Es ist immer noch eine Art Freiheit auf dem Berg in einer Zeit, in der alles im Leben zunehmend durchreglementiert wird.

STANDARD: Laut Ihren Studien ist die Schneehöhe in den letzten 100 Jahren in Österreich nicht signifikant gesunken. Geben Sie Entwarnung für den Skitourismus?

"Die öffentliche Meinung geht von deutlich stärkerem Schrumpfen des Schnees aus, als es die Messdaten für die meisten alpinen Regionen hergeben", sagt Günther Aigner.
Foto: Michelle Hirnsperger

Aigner: Jein. Der Grundtenor meiner Forschungsresultate ist schon, dass der Schnee aufgrund wärmerer Winter weniger wird. Aber nicht in hohem Ausmaß. Die öffentliche Meinung geht von deutlich stärkerem Schrumpfen des Schnees aus, als es die Messdaten für die meisten alpinen Regionen hergeben. Freilich mit Ausnahme von einigen Gebieten im Süden und Osten.

STANDARD: Wird es im Winter auf den Bergen nicht wärmer?

Aigner: Auf Österreichs Bergwetterstationen haben wir in den vergangenen 50 Jahren einen winterlichen Temperaturanstieg von 0,7 Grad. Das ist etwas mehr als 0,1 Grad pro Dekade, ein Ausmaß, das der alpine Skitourismus verkraften kann. Die Peripheriegebiete der Alpen leiden darunter aber schon. Ich bin deshalb aber kein Klimawandelleugner, weil mit den gleichen Daten der Anstieg der Jahresmitteltemperaturen um zwei Grad nachgewiesen werden kann. Kurz gesagt: Frühling und Sommer haben sich sehr stark erwärmt, Herbst und Winter nur gering.

STANDARD: Im Jahr 2005 sagte der Zukunftsforscher Andreas Reiter, dass 2040 Tirols Skilehrer Wein anbauen werden.

Aigner: Darüber kann man nur schmunzeln. Die Aussage ist ein wunderbares Mahnmal für das, was Zukunftsforschung nicht kann, nämlich konkrete Prognosen machen. Obwohl ich Zukunftsforschung für wichtig halte.

STANDARD: In den Weihnachtsferien 2019/20, also noch vor Corona, platzten viele Skigebiete in Vorarlberg, Tirol und Salzburg aus allen Nähten. Kann, darf das so weitergehen?

Aigner: Damals waren alle Kapazitäten am Limit. In Kitzbühel etwa gab es Stau bei der Anreise, beim Einbiegen in Parkplätze, bei Liftkassen und an der Skihütte. Das hat mit Urlaub nicht mehr viel zu tun. Das war ein warnendes Beispiel für Overtourism. Viele Skigebiete in den Alpen haben den Plafond erreicht. Meine These: Das war der vorläufige Höhepunkt des Massenskisports. Ich glaube, dass wir diese Frequenzen, die wir kurz vor der Corona-Krise hatten, die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre nicht mehr erreichen können.

STANDARD: Der Skisport wird nicht nur vom Klimawandel getroffen, sondern auch von Corona. Neos-Abgeordneter Sepp Schellhorn sprach davon, dass ganze Talschaften sterben werden.

Stau bei der Anreise, auf den Parkplätzen, bei der Liftkasse, vor den Skihütten. Die Zeit unmittelbar vor Corona war laut Aigner "ein warnendes Beispiel für Overtourism".
Foto: APA/EXPA/Lukas Huter

Aigner: Ich glaube, dass dem alpinen Skitourismus die Kernschmelze droht, wenn die Politik nicht gegensteuert und die nächste Wintersaison beeinträchtigt ist. Ich stelle die Frage, ob diese harten Maßnahmen, die wir jetzt schon ein Jahr lang fahren, verhältnismäßig sind.

STANDARD: Nicht wenige Menschen sagen, dass es ist nicht schade wäre um Ischgl nach den Ereignissen der Vergangenheit.

Aigner: Mich stimmt nachdenklich, dass wir Sündenböcke suchen, um Frust abzulassen. Es sind gewaltige Fehler passiert. Die Corona-Krise als neues Phänomen hat alle überfordert. Das Bashing macht aber keinen Sinn mehr, wir müssen in die Zukunft schauen.

STANDARD: Der Satz "Die Behörden haben alles richtig gemacht" ist hängengeblieben.

Aigner: Eine Person war das im Fernsehen, andere Tiroler haben das nicht gesagt, ich schon gar nicht.

STANDARD: Der Eindruck war, dass dieser perverse Wintertourismus uns auch noch Corona gebracht hat.

Aigner: Richtig. Diesen Eindruck nützt auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der aus polittaktischen Gründen immer wieder auf Tirol hinhaut. Dabei ist die Aussage zu vereinfachend und überspitzt formuliert. Tirol hat eine Imagekrise, aber jede Krise bietet auch eine Chance. Der Zusammenbruch der Marke Wein aus Österreich infolge des Weinskandals in den 80er-Jahren hat schon den Samen in sich getragen für die heutige Blüte.

STANDARD: Ein weiteres Problem für den Skitourismus ist, dass sich die urbanen Eliten immer mehr vom Skisport abwenden.

Aigner: Das ist das größte Problem. Der alpine Skitourismus wurde vom gebildeten, urbanen Publikum vor etwa 125 Jahren gestartet. Diese Menschen haben die Bücher des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen gelesen, sich Skier aus Norwegen und Schweden bestellt und sind damit in die Alpen gefahren. Das ist keine alte Tradition. Wir fahren noch nicht 500 Jahre Ski in Österreich, es ist eine relativ junge Sportart, genauso wie Fußball. Diese urbane Intelligenz wendet sich jetzt ab vom Skisport, weil sie nicht mehr an seine Zukunft glaubt. Weil sie der Meinung ist, dass es in Zukunft keinen Schnee mehr geben wird, dass die Umwelt zerstört wird.

STANDARD: Sind die Ängste begründet?

Aigner: Manche Ängste sind begründet, andere übertrieben, das geht in Richtung "urban legends". Es spielt aber keine Rolle. Wenn die Menschen das glauben, hat es Konsequenzen. Das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Das Wegbrechen des Markenkerns ist die größte Bedrohung für den Skisport.

STANDARD: In den meisten anderen Ländern, wo Ski gefahren wird, ist es wesentlich teurer als bei uns. Sind wir verwöhnt?

Aigner: In Skandinavien und im deutschsprachigen Raum ist Skifahren noch Volkssport, deshalb sind die Preise vergleichsweise noch moderat. Auch wenn man das in Österreich nicht glaubt. In den USA kosten Tagesliftkarten 150 bis 200 Dollar. Was aber sehr wohl zu beobachten ist: Die Preise für Skitickets in Österreich sind in den letzten 20 Jahren schneller gestiegen als die Löhne und Gehälter.

STANDARD: Wann waren Sie das letzte Mal Ski fahren?

Aigner: Gestern Nachmittag. Ich unternahm eine Skitour im Raum Kitzbühel auf den Weißkopfkogel in den Auracher Graben. Ich war ganz allein, es war wolkenlos, und ich habe die Freiheit der Natur genossen. (Florian Vetter, 3.3.2021)