So viel Bewegung wie möglich – und alle 30 Minute aufstehen. Das rät Mediziner Vavrovsky.

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"Wir kommen entwicklungsgeschichtlich aus der afrikanischen Steppe, und unser großer Erfolg war, dass wir ausdauernd und lange gehen und laufen können", sagt Gerhard Vavrovsky.

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Der Wiener Mediziner Gerhard Vavrovsky empfiehlt, 10.000 bis 12.000 Schritte am Tag zu gehen und sich vom Auto in der Stadt zu verabschieden. Er erklärt, warum Bewegung auch bei Kranken wichtig ist – und wie man die vielen Schritte im Alltag unterbringt.

STANDARD: Wie viele Schritte sollten es denn pro Tag sein?

Vavrovsky: 10.000 bis 12.000 Schritte. Jeder zusätzliche Schritt ist ein Gewinn. Es gibt eine eindrucksvolle Studie aus den USA, die das belegt: Man hat 4.840 Probanden, alle im Schnitt 56 Jahre alt, vor circa 15 Jahren eine Woche lang einen Schrittzähler gegeben. In der Gruppe, die 4.000 Schritte pro Tag im Schnitt nicht überschritten hat, waren nach zehn Jahren 71 Prozent verstorben, also 419 von 655 Probanden. In der Gruppe, in der im Schnitt 4.000 bis 8.000 Schritte zurückgelegt wurden, waren es nur noch 21 Prozent. Und in der Gruppe, die 8.000 bis 12.000 Schritte zurückgelegt hat, waren es nur neun Prozent. In der Gruppe mit noch mehr Schritten waren es noch einmal weniger. Und das Tolle an Bewegung ist: Sie hilft nicht nur Gesunden, sondern auch kranken Menschen.

STANDARD: Inwiefern?

Vavrovsky: Auch dazu gibt es eine spannende Studie mit etwas mehr als 1.000 Frauen, die an Brustkrebs erkrankt waren und nach besten medizinischen Möglichkeiten behandelt wurden. Da hat man herausgefunden, dass die Frauen, die zusätzlich zu ihrer Therapie am Tag vier Kilometer gehen, ihre Überlebenswahrscheinlichkeit über zehn Jahre gesehen entscheidend erhöhen konnten. Und noch einmal mehr, wenn sie dieselbe Distanz laufen und nicht gehen.

STANDARD: Warum ist das so?

Vavrovsky: Arbeitende Muskulatur sendet Botenstoffe an alle anderen Körpersystem aus und wirkt als Steuerungssystem. Adrenalin, welches den Blutdruck steigert und die Herzfrequenz erhöht, zeigt auch Wirkung auf das Immunsystem. Die gesteigerte Immunaktivität führt zu vermehrter Zerstörung von entarteten Zellen und verzögert oder stoppt das Krebswachstum oder die Metastasenbildung. Verletzungen können schneller heilen. Bewegung an sich ist schon gut. Und noch besser ist, wenn man sich dabei anstrengt und einmal pro Tag für 30 Minuten ins Schwitzen kommt.

STANDARD: Aber sollen sich kranke Menschen so fordern?

Vavrovsky: Ich sage immer: Strengen Sie sich an, aber überanstrengen Sie sich nicht! Belasten Sie sich, aber überlasten Sie sich nicht! Nach guter Anstrengung ist man nach der Belastung etwas verschwitzt, hat einen beschleunigten Herzschlag und ist müde. Wenn man sich überlastet, ist man danach kaltschweißig, völlig erschöpft und energielos. Wir müssen lernen, wieder mehr auf unseren Körper zu hören.

STANDARD: Die noch viel größere Frage ist für viele aber: Wie kriegt man die Bewegung im Alltag unter?

Vavrovsky: Ich rate meinen Patienten immer, pro Tag vier Kilometer zu gehen, am besten als Teil des Arbeitsweges oder als Spaziergang zur Entspannung. Man sollte auch mehr als zehn Stockwerke pro Tag Stiegen steigen. Und nach spätestens 30 Minuten Sitzen wieder aufstehen – auch wenn es nur eine Minute ist. Gehen Sie Blumen gießen, zur Kaffeemaschine oder jonglieren Sie. Hauptsache weg vom Schreibtisch und Bildschirm! Wer meint, er sei zu müde für Bewegung, sollte bedenken, dass gleichzeitig mit der Leistungsfähigkeit auch die Erholungsfähigkeit gesteigert wird.

STANDARD: Warum ist das viele Sitzen so ungesund?

Vavrovsky: Menschen sind "Gehwesen". Wir kommen entwicklungsgeschichtlich aus der afrikanischen Steppe, und unser großer Erfolg war, dass wir ausdauernd und lange gehen und laufen können. Das haben die Menschen den meisten Raubtieren voraus. Das ist unsere genetische Grundausstattung, und daher müssen wir uns regelmäßig und viel bewegen. Das viele Sitzen erhöht unsere Sterblichkeit und wirkt sich nachteilig auf die Gesundheit aus. Die WHO hat in ihren neusten Bewegungsrichtlinien erstmals angeführt, dass Sitzen möglichst vermieden und durch Bewegung ersetzt werden soll.

STANDARD: Bewegungsmangel ist also einer der Krankmacher in unserer Gesellschaft. Bräuchte es da nicht auch gesundheitspolitisch mehr Maßnahmen?

Vavrovsky: Die WHO hat 1975 entdeckt, dass 95 Prozent aller Einflussfaktoren auf die Gesundheit der Bevölkerung außerhalb des Gesundheitssystems liegen. Darum wurde der Grundsatz HIAP – Health in all Policies – beschlossen. Jede politische Entscheidung muss also die Gesundheitsauswirkungen auf die Menschen berücksichtigen. Das ist ein wirklich tolles Prinzip, nur ist es bei den Entscheidungsträgern bisher nicht angekommen. In Österreich müsste das Prinzip eigentlich "Inge" heißen – immer nur gesunde Entscheidungen.

STANDARD: Und welche gesunden Entscheidungen wären nötig?

Vavrovsky: Eine der wesentlichsten Entscheidungen für die Gesundheit wäre, Bewegung im Alltag zu fördern und das Auto vor allem in der Stadt zurückzudrängen. Wenn ich die Gesundheit der Wiener Bevölkerung als Auftrag hätte, würde ich die Gegend innerhalb des Gürtels für Autoverkehr sperren. Dann würden die Menschen mehr gehen und dadurch gesünder werden. Aber nicht nur das. Auch die Anzahl von Herzinfarkten würde sich reduzieren, weil diese unmittelbar mit der Luftverschmutzung und dem Bewegungsmangel zusammenhängen. Es gäbe auch weniger Lärmverschmutzung, was ein zusätzlicher Stressfaktor ist. Bäume statt Parkplätzen würden zu mehr Kühlung im Sommer und mehr Freude an Berufswegen zu Fuß oder mit dem Fahrrad führen – und die Walkability der Stadt würde zunehmen. (Franziska Zoidl, 27.3.2021)