Bild nicht mehr verfügbar.

Musik als Familiensache: Billie Eilish komponiert in R. J. Cutlers Film viel mit ihrem Bruder Finneas.

Foto: AP

Fünf Jahre zuvor, mit zwölf, war Justin Bieber die Liebe ihres Lebens. Kein männliches Wesen würde ihm je das Wasser reichen können, dachte sie, das Unglück ewig währen. Wild drauflos plaudernd, erinnert sich die Sängerin an diese Zeit. Bei diesem Interview konnte sie noch nicht wissen, dass ebendieser Herr Bieber wenige Monate später wegen eines Remixes ihres Hits Bad Guy anfragen wird. Und nicht nur das: Er wird ihr ausgedehnte Botschaften darüber schreiben, wie sehr er ihr Charisma bewundert.

Apple TV

Die Rede ist natürlich von Billie Eilish, dem ersten Superstar des Pop, der in den 2000ern geboren wurde und weltweit die Charts anführte. Wie raketenschnell das passiert ist, davon erzählt auch die Anekdote über Bieber in Billie Eilish: The World’s a Little Blurry. Umringt von ihrer Familie liest sie die Nachrichten am Smartphone vor, und einen kurzen Moment lang ist sie wieder das Mädchen von früher. Aber eben nur kurz: Jetzt trägt sie Edeldesigner-Morgenmäntel und hat Millionen Follower.

Dass R. J. Cutler – der Mann ist fast sechzig – die neben Greta Thunberg wohl wichtigste junge Influencerin dieser Tage praktisch wie der Schweif den Kometen begleiten konnte, ist ein clever eingefädelter Coup. Der Dokumentarist der Direct-Cinema-Schule, der 1992 schon Bill Clinton in The War Room auf seiner Kampagne filmte, ist so nahe dran an Eilish, wie es sich ihre Fanbase nur erträumen kann: die berüchtigte Fliege an der Wand. "The Making of a Star" wäre ein möglicher Alternativtitel, denn die Arbeit an den Songs mit ihrem Bruder Finneas erhält darin genauso Raum wie das sorgfältige Modellieren der Starpersona: etwas, worüber Eilish, resolut und durchaus launisch, am liebsten volle Kontrolle ausübt.

Ängste und Zweifel

An einer Stelle des ab heute exklusiv auf AppleTV+ zu sehenden Films sieht man dann auch, wie sie ihre Mutter im Garten für ihr Video von The Party’s Over zur Probe inszeniert. Das ist jenes berühmte Video, in dem sie schwarze Tränen weint. In dem von Bury a Friend stellt sie ein pupillenloses Monster unter dem Bett dar. Solche düsteren, an Goth und Horrorcore angelehnten Selbststilisierungen sind Eilishs Markenzeichen, mit denen sie die Ängste, Selbstzweifel und Unsicherheiten einer Generation anvisiert.

Cutlers Film verhält sich dazu wie ein Bestätigungsverfahren: Er bezieht den Star spiegelbildlich wieder zurück auf die Person, den kalifornischen Teenager, der die Welt aus eigener Kraft bezwingen will. Glücklich, sei sie nicht, sagt sie, außer vor ihrem Publikum, und wenn man sieht, wie sich nach dem Auftritt auf dem Festival von Coachella wegen eines Textaussetzers zermürbt ist, glaubt man es beinahe. Aber Stimmungen sind wie vorüberziehende Wolken: Über ihren schwarzen Dodge Challenger gerät Eilish vor Freude richtig aus dem Häuschen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Auf der Bühne in ihrem Element: Billie Eilish.
Foto: AP

Ob Billie Eilish als Film über ein "Kulturphänomen" geglückt ist, wie es Cutler intendiert hat, darüber kann man geteilter Meinung sein. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo zwischen Selbstpromotion und dem kritischen Blick eines Außenseiters. Die Kamera darf jedenfalls auch in jenen Momenten zugegen sein, wenn innerfamiliär diskutiert wird, ob es schon ein Ausverkauf sei, die Musik "zugänglicher" zu machen – etwas, wogegen Eilish sich am vehementesten verwahrt.

Aber nicht unbedingt nur aus musikalischen Gründen, denn Eilish ist, wie es Finneas einmal formuliert, besonders "woke", was ihre Internet-Persona anbelangt. Nichts scheint sie mehr zu fürchten als einen möglichen Shitstorm. Der Film erzählt viel davon, was es bedeutet, im Zeitalter sozialer Medien eine Subjektivität zu bewirtschaften, die einem beim kleinsten Misston zu entgleiten droht.

Lebendige Familienszenen

Mit fast zweieinhalb Stunden ist Billie Eilish ein bisschen lang. Wie in einem Zuckerlgeschäft gibt es von allem etwas, neben wohltuend langen Konzertmitschnitten gehört auch der Ausraster über den Exzess an Aufmerksamkeit dazu, den Ruhm mit sich bringt. Cutler legt es dramaturgisch jedoch nicht auf solche Momente an, sondern betont das familiäre Sicherheitsnetz, das Eilish auf dem Weg zum Superstartum einen Rest von Nestwärme gewährt. Die Szenen "on the road" sind lebendig, nicht frei von Disput und zugleich ganz geerdet.

"Es ist eine schreckliche Zeit, ein Teenager zu sein", sagt Eilishs Mutter einmal und meint die politischen Tumulte in den USA. Die Kämpfe von Eilish, ihre körperlichen Rückschläge, ihr Unaufgehobensein bilden zugleich das Rückgrat der Musik. Cutlers Film möchte eine Brücke zwischen zwei Bühnen schlagen, jener der Privatheit und jener des Livekonzerts, in dem Eilish gegen das Taubheitsgefühl Gleichaltriger ansingt. Dazwischen bleibt Raum für Spekulation. Denn das irreale Gefühl, ein Idol von Millionen zu sein, hat eigentlich keinen Anker in der Wirklichkeit mehr. "I don’t know why you like me, but it feels good." (Dominik Kamalzadeh, 26.2.2021)